Im Westen nichts Neues. Man erwartete, dass Hitler im März zuschlagen werde – so wie er es im März 1936 mit der Besetzung des Rheinlands, im März 1938 mit dem Einmarsch in Österreich, im März 1939 mit der Einnahme Prags getan hatte. Doch die Grossaktion gegen Frankreich bleibt weiter aus.
In Frankreich ist ein Kriegskabinett gebildet worden. Der als entscheidungsfreudig geltende Paul Reynaud hat den abwägenden Daladier als Ministerpräsident abgelöst. Winston Churchill, als First Lord of the Admiralty verantwortlich für den Seekrieg, freut sich über Frankreichs Neuorientierung und gratuliert Reynaud:
Ich zähle auf die engste und tatkräftigste Zusammenarbeit unserer Regierungen. Ich teile, Sie wissen es, alle die Sorgen über die allgemeine Führung des Kriegs und die Notwendigkeit energischer und drastischer Massnahmen, die Sie mir letzthin mitgeteilt haben.
In seiner von der Schweizer Presse ausführlich zitierten Antrittsrede verspricht Reynaud dem französischen Volk den Sieg:
Die vereinigten Mittel der beiden grössten Reiche der Welt garantieren ihnen den Sieg, vorausgesetzt sie wollen und können diese Mittel total einsetzen.
Seit Ausbruch der Wirtschaftskrise 1932 sind die Ausgaben des Bundes ständig gestiegen. Subventionen für notleidende Branchen, Arbeitslosenunterstützung, Arbeitsbeschaffungsprogramme und die Aufrüstung der Armee können nicht mehr mit den Zolleinnahmen gedeckt werden. Neue Bundessteuern sind unvermeidlich geworden. Bisher hat sich der Bundesrat mit notrechtlichen Übergangsfinanzprogrammen beholfen. Jetzt will die Regierung eine dauerhafte Finanzordnung gesetzlich verankern. Der Chef des Finanz- und Zolldepartements Ernst Wetter hat im Herbst 1939 eine ausgeglichene Vorlage zusammengestellt und ins Vernehmlassungsverfahren gegeben. Der Ständerat billigt das Projekt am 28. Februar mit 22 zu 4 Stimmen.
In der dreiwöchigen Frühjahrssession will der Bundesrat das Finanzloch in der Bundeskasse mit dem Abwertungsgewinn der Nationalbank, einem Wehropfer, einer Wehrsteuer, einer Kriegsgewinnsteuer und einer Warenumsatzsteuer stopfen. Das Wehropfer ist eine einmalige Abgabe auf hohe Vermögen, und die Wehrsteuer schöpft die Erträge von Wertpapieren an der Quelle ab.
Die Sozialdemokraten halten das Projekt für asozial und warnen vor seiner inflationären Wirkung. Der Beitrag des Kapitals zur Sanierung des Bundeshaushalts sei «lächerlich» gering. Die Warenumsatzsteuer treffe die grosse Masse der kleinen Steuerzahler, die Konsumenten und die Arbeiter viel härter als die direkten Steuern die Reichen. Auch den welschen Liberalen gefällt das Projekt nicht. Sie sehen in direkten Bundessteuern eine Gefahr für die Haushalte der Kantone und damit für den Föderalismus.
Der Gründer und mächtige Chef des Landesrings der Unabhängigen, der dynamische Unternehmer Gottlieb Duttweiler wirft dem Bundesrat vor, nicht an die Zukunft zu denken. Wie die Sozialisten will Duttweiler das Wehropfer von maximal 4½ auf 6 Prozent des Vermögens erhöhen. Er möchte das Geld zweckgebunden für den Bau einer Maginot- oder Siegfried-Linie an der Rheingrenze einsetzen. Der Migros-Chef bestürmt den «phantasielosen» Bundesrat gerne mit Vorschlägen zur Landesverteidigung und Landesversorgung. 1937 forderte er – erfolglos – die Beschaffung von 1000 Militärflugzeugen, jetzt verlangt er den Bau von unterirdischen Tanks in den Seen, in denen Vorräte von flüssigen Brennstoffen und Nahrungsmitteln zu lagern seien.
Während die Schweiz mit sich selbst beschäftigt ist, gerät der europäische Kriegsschauplatz in Bewegung. England und Frankreich machen mit der seit Monaten geplanten Aktion zur Unterbindung der schwedischen Eisenerzlieferungen an Deutschland Ernst. Lange hatten die Franzosen bei den Engländern für die Entsendung eines alliierten Expeditionskorps zur Unterstützung Finnlands plädiert. Beim Durchmarsch durch Nordschweden könnten dabei die dortigen für Deutschland lebenswichtigen Eisengruben in Besitz genommen oder zerstört werden. Der sowjetisch-finnische Friedensschluss vom 12. März beerdigte das Projekt. Stattdessen legen die Engländer am Morgen des 8. Aprils in den norwegischen Territorialgewässern Minen. Norwegen protestiert. Die Alliierten rechtfertigen ihre Aktion damit, dass Deutschland mit der Versenkung alliierter Schiffe in norwegischen Territorialgewässern die Neutralität des Landes missachtet habe. Am Abend berichtet die englische Nachrichtenagentur Reuter, dass 90 bis 100 deutsche Kriegsschiffe im Kattegat Richtung Norden unterwegs sind.
Hitler hat den Befehl für eine seit Monaten geplante Aktion – Deckname «Weserübung» – gegeben. In den frühen Morgenstunden des 9. Aprils teilt Berlin der dänischen und der norwegischen Regierung mit, das Reich werde ihre Neutralität unter seinen «militärischen Schutz» nehmen. Deutsche Truppen überschreiten die dänische Grenze. Dänemark ergibt sich unter Protest der deutschen Herrschaft. Um 8 Uhr früh ist Kopenhagen besetzt. Deutsche Kriegsschiffgruppen erzwingen Zugang zu den grossen norwegischen Atlantikhäfen von Narvik, Trondheim und Bergen. Stavanger wird von Luftlandetruppen besetzt. Die norwegische Regierung weist das deutsche Ultimatum zurück, erklärt die Mobilmachung und zieht sich aus Oslo zurück. Derweil ruft in der Hauptstadt «ein gewisser Quisling» sich zum Ministerpräsidenten aus. Major Vidkun Quisling ist ein ehemaliger Verteidigungsminister und Chef der unbedeutenden norwegischen Rechtsaussenpartei Nasjonal Samling .
In der Schweiz ist man über den deutschen Handstreich gegen die neutralen skandinavischen Länder erschüttert und empört. Dänemark, das nach dem Weltkrieg abgerüstet hatte und kaum eine Armee besitzt, leistet keinen Widerstand. Das Land hatte sich aufs Völkerrecht und einen Nichtangriffspakt mit Deutschland verlassen. Auch Norwegen glaubte nicht, je in einen Krieg verwickelt zu werden, und hat seine Rüstung vernachlässigt. Es kann nur schwache Kräfte – geschätzte 60 000 Mann – mobilisieren, die von den deutschen Truppen überrannt werden.
Die Lehre für die Schweiz ist klar: Wachsam und gerüstet bleiben. Leitartikler und Geschichtsprofessor Edmond Rossier kommentiert ( Gazette , 10. April):
Wenn Deutschland für seinen Krieg einen Vorteil sieht, geht es über alle Rücksichten und Verpflichtungen hinweg. Dies ist die Methode des Reichskanzlers Hitler. In engen Kreisen hat er oftmals gesagt, dass Übereinkünfte für ihn nur so lange einen Wert haben, als sie für ihn nützlich sind, dass Menschenleben in seinen Augen nichts zählen. In seinen veröffentlichten Reden hat er feierliche Verträge aufgekündigt; und angesichts der seltsamen moralischen Abweichung seines Volkes hat er dafür immer Beifall erhalten.
Derartig scharfe Worte gegen den deutschen Diktator kann sich nur ein Welscher vom Range Rossiers erlauben.
Seit Monaten kündigt man an, der Krieg werde in eine aktive Phase treten, grosse Ereignisse stünden bevor. Rossier schreibt:
Dieses Mal sind wir bedient: es ist wirklich eine neue Phase, die beginnt.
Britische Regierungsstellen, die ihr eigenes Versagen rechtfertigen müssen, schreiben das Gelingen des deutschen Überfalls dem Verrat von in Norwegen lebenden Deutschen und norwegischen Nazifreunden zu. Die «5. Kolonne» sei schuld und vor allem der Statthalter von deutschen Gnaden, Major Quisling, der dem König und der eigenen Regierung in den Rücken gefallen sei. Quisling weilte allerdings zur Zeit des Überfalls in Kopenhagen und war vom Einmarsch der deutschen Truppe ebenso überrascht wie alle anderen Norweger. Trotzdem wird sein Name in vielen Sprachen zum Begriff für Kollaborateur oder Verräter.
Die Verbreitung der Wortschöpfung ist dem sprachgewaltigen Churchill zuzuschreiben, der von einer «schmählichen Rasse von Quislingen» sprach – «um ein neues Wort zu brauchen, das über die Jahrhunderte hinweg die Verachtung der Menschheit mit sich schleppen wird». Quislinge – sagte Churchill – «sind angeheuert worden, um dem Eroberer zu liebdienern, mit seinen Plänen zu ‹kollaborieren› und dessen Herrschaft über seine Landsleute durchzusetzen, während sie selber niedrig katzbuckeln.»
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