Unklare Ursache, unvorhersagbarer Verlauf, unheilbar. Beverly wusste, dass diese Krankheit bei einer Vielzahl der Betroffenen gutartig war. Doch wenn man schon mit knapp über dreißig an einen Rollstuhl gefesselt war, brauchte man sich über die Art des Verlaufs keine Illusionen mehr zu machen.
Warum ausgerechnet seine Frau?
Biete Klavierunterricht gegen Kost und Logis. Beverlys Augen brannten, sie wünschte diesen Satz endlich in einer der Zeitungen zu finden. Seit sie Sands und seine Frau in der Klinik gesehen hatte, fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Während der letzten Stunden, in denen sie vor ihrem Stapel Annoncen gehockt hatte, war ihre Aufmerksamkeit auf unterstes Niveau gesackt. Die ganze Sucherei hatte nichts gebracht und zu allem Überfluss hatten die Kopfschmerzen sich zurückgemeldet. Sie ging in die Teeküche, um sich einen Kaffee zu holen. Evans, du bist super drauf, wenn dir St. Williams hier im Flur entgegenkommen würde, du würdest ihn nicht einmal erkennen. Geh nach Hause, leg dich ins Bett und mach die Augen zu.
Küchenchaos und kein Kaffee in Sicht. Sie füllte Pulver und Wasser in die Maschine und drückte den Schalter. Sie nahm ein Glas, das sie mit Wasser füllte. Fleming kam mit einem Tablett voller Tassen in die Küche, während Beverly zwei Schmerztabletten mit ein paar Schlucken herunterspülte.
„Womit dröhnen Sie sich denn jetzt wieder zu, Evans?“ Typisch Psychologe. Er stellte das Tablett ab, und sie taxierte ihn.
„Das ist doch wohl meine Sache. Hat Hays Sie jetzt zum Dienstmädchen degradiert, Fleming?“
„Sehr witzig, Evans.“ Er dehnte das erste Wort. „Sie sehen schon wieder genauso fertig aus wie am Freitag.“
„Danke, mir geht’s bestens.“
„Dachte ich mir. ... Miss Abgebrüht macht solange ihren Dienst, bis sie wieder zusammenklappt.“
„Das würde Ihnen sicher gefallen, dann können Sie mir wieder ungestraft an die Wäsche.“ Sie kniff die Augen zusammen. Er schwieg und ließ seinen Blick an ihrem Körper hinunter und wieder herauf wandern.
„Das können Sie auch einfacher haben, Evans.“ Er zog eine Augenbraue hoch, drehte sich auf dem Absatz um und ging.
Der Tag war gelaufen. Beverly meldete sich ab und fuhr mit dem festen Vorsatz nach Hause, sich sofort ins Bett zu legen.
Die Luft im Büro war stickig. Beverly war ihrem Vorsatz gefolgt, hatte dann lange wachgelegen und anschließend wirr geträumt. Sie fühlte sich ausgeschlafen wie ein Faultier nach einem Marathonlauf. Sie versuchte Whitefields Ausführungen zu folgen, aber der Kampf gegen die Müdigkeit forderte ihre ganze Konzentration. Frau, du hast dein durchgeschütteltes Hirn nicht richtig auskuriert. Mach den Mund auf, sag’s dem netten Allister und geh wieder nach Hause. Durch ihre gesenkten Wimpern sah sie Stanton mit Miller diskutieren. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Sands und Henderson fehlten. Whitefield beendete die Sitzung, und sie schloss sich Bill und Hank auf dem Weg in den Korridor an. Miller sah sie breit grinsend an; Beverly ahnte sofort, dass er sich einen Kommentar nicht verkneifen würde.
„Hey, Evans, zu viel Sex geht aufs Rückenmark.“
Sie machte ein gleichgültiges Gesicht, nicht, weil sie es wollte, sondern weil sie zu mehr nicht fähig war. „Dann wundert’s mich, dass du überhaupt noch laufen kannst, Miller.“ Sie ging mit Stanton ins Büro und setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch.
„Wo ist Sands?“, wollte sie wissen.
Er schob eine Diskette in den Rechner und sah kurz auf. „Unten, im Schießstand. Ich hab’s mit Henderson inzwischen aufgeben. Die Frau macht mich wahnsinnig. Sie schießt, als hätte sie ’ne Gurke in der Hand.“
Ähnlich wie Miller, dachte Beverly. Er schießt dem Huhn den Arsch weg, wenn er den Fuchs treffen will. … Der Dauergenuss von hochprozentigem Zielwasser kann da auch nichts mehr ausrichten. Sie verließ das Büro und ging den Korridor entlang zum Aufzug. Der Schießstand lag im Untergeschoss, dort wo sich auch die Ballistikabteilung und die Asservatenkammer befanden. Sie sah durch die schalldichte Glasscheibe zu, wie Sands erklärte und Henderson ihn dabei anschmachtete. Sie setzten die Kopfhörer auf. Sie entsicherte die Waffe, legte an, er korrigierte die Stellung ihrer Arme. Sie drückte ab und traf nicht einmal die Scheibe. Während Beverly überlegte, ob sie Henderson bei den Schießübungen stören durfte, drehte Sands sich zu ihr um. Er musste gespürt haben, dass sie hinter der Abtrennung wartete. Er gab Patricia ein paar Anweisungen und verließ den Schießstand durch die Seitentür.
„Wie macht sie sich?“, wollte Beverly wissen.
„Ihre Fähigkeiten an der Waffe machen mir Sorgen.“ Schweigend blickten sie durch die Scheibe zu Henderson, die einen Schuss nach dem anderen neben die Zielscheibe setzte.
„Soll ich es mal mit ihr probieren?“
„Gern, wenn du willst. Ich habe ohnehin gleich eine Besprechung mit Whitefield.“
Beverly betrat den Schießstand. Henderson drehte sich zum Vorraum um, Sands war verschwunden.
„Ich kann schießen, Bev“, sagte Paricia ohne Umschweife. Sie zog ein Etui aus der Tasche ihrer Kostümjacke, nahm dann eine Brille heraus, die sie sich auf die Nase schob. Die beiden Frauen setzten sich die Kopfhörer auf, und Henderson feuerte mehrere Schüsse ins Schwarze.
„Wie bist du mit einer solchen Sehschwäche zur Polizei gekommen?“, wollte Beverly wissen.
„Meine Augen waren nicht immer so schlecht. Die Brille hab ich noch nicht mal ein Jahr.“
„Du bist doch nicht etwa eitel, oder was war das da eben Pat?“
„Na ja, ich vertrage keine Kontaktlinsen.“
„Und die Brille?“
„Vertrag ich auch nicht, wenn Sands mich damit sieht.“
„Er wird dich damit sehen, spätestens beim nächsten Einsatz, das ist dir doch wohl klar, Pat?“
„Ja, ja. Ich weiß.“
Patricia und Beverly nahmen eine Kanne Tee mit ins Büro und stöberten die Zeitungsblätter durch, während Bill Stanton alle Nummern und Chiffreanzeigen, die sie markiert hatten, in seinen Computer eingab. Alles, was in irgendeiner Form mit Klavier zu tun hatte, kam in seine Listen: Klavierkonzerte, Klavierunterricht, Klavierstimmer, Klavierbauer, Gesangsunterricht mit Klavierbegleitung. Obwohl sie strukturiert arbeiteten, floss der Nachmittag schnell dahin.
„Ich glaube nicht, dass er ein Konzert besuchen würde“, bemerkte Beverly, fuhr sich mit der Hand über die schmerzende Stirn und betrachtete Bills Liste. „Nach allem, was wir von ihm wissen, würde er sich niemals in eine solche Menschenansammlung wagen.“
„Da könntest du Recht haben“, bestätigte Bill. „Aber wir sollen alles aufnehmen, was annähernd mit Klavier zu tun hat. Dienstanweisung von Whitefield. … Ich werde morgen jedenfalls mit den chiffrierten Anzeigen bei der Presse auflaufen. Vielleicht bringt es was.“
„Sieh mal hier, Bev“, warf Henderson ein. „Das wäre doch was für dich: Gutaussehender Mann, Mitte dreißig, vermögend, ungebunden, sucht ebensolche Sie bis dreißig für gemeinsame Stunden.“
Beverly stöhnte genervt. „Du brauchst mich nicht zu verkuppeln.“
„Ich dachte ja nur. ... Wie läuft es denn mit Fleming?“ Stanton blickte kurz auf.
„Mit Fleming läuft nichts.“ Beverly warf Patricia einen giftigen Blick zu und vertiefte sich wieder in die Zeitung. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Erst als ihre Kehle enger und enger wurde, begriff sie warum. Die Gedanken kamen wie in Wellen: Die Straßengang und der Überfall. Packt euch die Schlampe. Edward. Peggys gehässiger Blick. Du bist nur das Ergebnis einer abscheulichen Nacht. Fleming. Sie haben Angst vor dem Dienstschluss, weil danach nichts mehr kommt. Sands und die Frau im Rollstuhl, … seine Frau.
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