„Auch Miller?“, hakte sie nach. Bitte nicht Miller! „Ja. Er sitzt zwar noch mit Brown an einem anderen Fall“, brummte Whitefield, „aber Hays übernimmt ab Morgen für ihn.“
Sie gingen nebeneinander auf das Haus zu. Ein kleiner Backsteinbau, Efeu rankte um die Fenster, Blumentöpfe aus Ton standen auf der kleinen Treppe. Sie waren nicht bepflanzt, es war noch zu kalt für Frühlingsblumen.
„Lebte sie allein?“ fragte Beverly gedämpft.
Whitefield räusperte sich. „Ja, hat sie wohl. Ich denk auch, dass sie den Täter rein gelassen hat, keine Einbruchspuren.“
„Vielleicht hatte sie vergessen abzusperren“, überlegte Beverly, „wurde was gestohlen?“
„Wie’s aussieht nicht, wie beim letzten Mal. Es ist ein Haufen Geld im Haus. Es sieht nicht nach Diebstahl aus, überhaupt nicht.“
„Ja“, sinnierte Beverly, „es geht um etwas anderes.“
„Und es gibt ein Riesenproblem“, Withefield atmete hörbar ein, „die verdammte Presse war wieder vor uns da. Keine Ahnung, wie das passieren konnte. O’Brian wird im Rechteck springen.“
Beverly seufzte Die Presse hatte ihnen im Fall Laurie Hardin wochenlang zugesetzt. Der Druck war täglich gewachsen, denn die Gazetten hatten von Schlamperei und Unfähigkeit gesprochen, die Nerven der Ermittler hatten blank gelegen. Erst als die Akte Hardin als ungelöster Fall nach nicht einmal vier Monaten von der Staatsanwaltschaft geschlossen wurde, war wieder Ruhe eingekehrt.
Sheila Moreno stand auf dem Türschild. Beverly und der Superintendent zogen die weißen Kunststoffanzüge über, Plastikbezüge über ihre Schuhe und betraten den schmalen Flur. Es war warm. Der Duft von Bienenwachskerzen lag in der Luft. Der Boden aus Eichendielen knarrte leise. Sie schoben sich an den Leuten der Spurensicherung vorbei, die gerade damit beschäftigt waren, die Garderobe einzustäuben, und zogen die Handschuhe über.
„Sie liegt im Bett“, sagte Whitefield.
Beverly trat in das Schlafzimmer, der Superintendent folgte ihr. Sie begrüßte die beiden Männer, die an der Fensterbank lehnten. Sergeant Bill Stanton war Junggeselle, ein blasser, hagerer Mann, knapp über dreißig. Seine wilden blonden Locken standen ihm wirr um den Kopf, was ihn immer ein wenig jungenhaft wirken ließ. Whitefield schätzte Stantons Verstand und seinen versierten Umgang mit den neuesten Computerprogrammen. Inspektor Harold Sands war fast zehn Jahre älter und einen halben Kopf größer als Stanton, dunkelhaarig, mit graumelierten Schläfen. Niemand im Yard kombinierte so scharfsinnig wie er, niemand fuhr so lässig Auto, und niemand sonst sah so unverschämt gut aus. Selbst der weiße Kunststoff, in dem er jetzt steckte, tat seiner Ausstrahlung keinen Abbruch.
„Vermutlich haben wir es mit demselben Täter zu tun, der auch Laurie Hardin auf dem Gewissen hat“, löste Inspektor Sands die Stille, „die gleiche Vorgehensweise.“
Beverly trat an das Bett. Mit der Erinnerung an Laurie Hardin wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Der Körper der Toten lag gekrümmt, die Spuren des Todeskampfes waren ihr anzusehen. Die Hände waren mit einer Gardinenkordel zusammengebunden. Beverly sah in Sheila Morenos blass-bläuliches Gesicht. Da gab es nicht einen Hauch von Zweifel. Beverly beugte sich über die Tote. Sie waren deutlich zu erkennen. Trotz der geschwollenen Lippen und trotz des vielen Blutes. Sie waren deutlich zu sehen, die bläulich-dunklen Fäden, die in unregelmäßigen Abständen über den Lippen von Sheila Moreno zusammengezogen waren. Chirurgischer Faden.
„Wie lange ist sie schon tot?“, fragte Beverly matt.
„Dr. Morrow hält sich bedeckt“, antwortete Stanton.
„Wer hat sie gefunden?“
„Eine Bekannte. Sie wollte Bücher ausleihen.Die Tote war Heilpraktikerin“, erwähnte Sands knapp.
Sie gingen ins Wohnzimmer. Es war geschmackvoll eingerichtet. Antike Möbel, helle Vorhänge. Gruppen schlichter Kerzen und mit verschiedensten Kräutern gefüllte Flaschen standen auf den Fensterbänken. Auf dem Boden lag ein heller, dicker Teppich. An der hinteren Wand befand sich ein kleiner Kamin aus Sandstein. Die Flammen waren erloschen, doch die Glut erwärmte noch das Zimmer. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Klavier.
„Der Täter scheint ein Faible für Klaviermusik zu haben“, bemerkte Inspektor Sands. „Laurie Hardin besaß einen Flügel.“
„Könnte Zufall sein“, sagte Beverly mehr zu sich als zu ihrem Vorgesetzten, „muss es aber nicht.“
„Es gibt eine Reihe von Parallelen, die ziemlich offensichtlich sind“ warf Sands ein. „Das könnte bei der Erstellung eines Täterprofils hilfreich sein.“
„Das sehe ich auch so. Ist Victor Watermann wieder fit?“
„Nein, aber Whitefield bemüht sich um Ersatz. Er versucht, O’Brian davon zu überzeugen, dass wir jemanden brauchen, bis Victor wieder einsatzbereit ist.“
Ersatz? „Glaubst du im Ernst, Harold, dass O’Brian da mitspielt?“, bohrte Beverly. „Es wäre wünschenswert. Obwohl ich nicht weiß, wer Victor ersetzen könnte. Du weißt genauso gut wie ich, dass er ein Mann mit Gespür ist, wenn es um Täterprofile geht, die den üblichen Rahmen sprengen.“
Beverly seufzte. „Und du weißt genauso gut wie ich, das Chief Superintendent Will O’Brian keinen Hehl daraus macht, dass er von dem ganzen Psychogelaber, wie er es nennt, ohnehin nicht viel hält. O’Brian hat seinen Kurs, den lässt er sich von niemandem korrigieren.“
Sie betraten den Raum, der an das Wohnzimmer grenzte.
Beverly sog die Luft durch die Zähne. Drei Wände dieses Zimmers waren mit Regalen zugestellt, und diese bis zur letzten Lücke mit Büchern gefüllt.
Harold Sands fuhr mit seinen behandschuhten Fingerspitzen an den Buchrücken entlang. „Sie hat regelmäßig Bücher verliehen. Es gibt eine Kartei. Die Frau, die Sheila Moreno gefunden hat, war aus diesem Grund hier.“
„Was sagt die Spurensicherung?“, wollte Beverly wissen.
„Sie nehmen Spuren im gesamten Haus, die Fingerabdrücke an den Büchern werden gesondert katalogisiert. Sie befürchten, dass es Unmengen davon geben wird.“
„Was ist mit der Frau, die die Tote gefunden hat?“
„Sie heißt Helen Fuller, und sie wartet draußen im Polizeiwagen“, antwortete Sands. „Vorhin hat sie kein Wort herausgebracht. Vielleicht hat sie sich ja inzwischen soweit beruhigt, dass du sie befragen kannst.“
„Ich werde sehen, ob es was bringt.“
Beverly ging zur Haustür, beladen mit dem Gefühl, dass die nächsten Tage kein Spaziergang werden würden. Sie streifte die Schutzkleidung ab, folgte dem im Laufe des Abends im nassen Gras entstandenen Trampelpfad zur Straße und stieg in den Van. Dort saß eine zusammengekauerte Gestalt auf dem Rücksitz und hatte das Gesicht in die Hände vergraben. Ein Glas Wasser stand unberührt neben ihr auf einer Ablage. Beverly setzte sich zu ihr. „Ich bin Sergeant Evans. Ich werde Ihnen jetzt einige Fragen stellen. … es muss sein.“
Helen Fuller hob langsam das Gesicht. Ihre Augen waren gerötet, die Lider verquollen. Sie fuhr sich mit der rechten Handfläche über die Stirn, dann durch die dunkelblonden Locken die dem lose gebundenen Haarknoten entkommen waren. Beverly lächelte ihr aufmunternd zu.
„Ich kann es nicht“, begann Helen zu schluchzen, „ich kann nicht.“
Beverly wartete beinahe eine Viertelstunde, bis Helen Fuller sich wieder beruhigt hatte. Dann begann sie behutsam mit der Befragung der Frau, die sich eigentlich nur Bücher hatte ausleihen wollen.
Die Nacht war nicht lang gewesen. Trotz ihrer überwältigenden Müdigkeit hatte Beverly kaum Schlaf gefunden. Als sie in ihrer kleinen Wohnung im Norden Croydons aufwachte, war der Fall sofort wieder präsent, und jeder Gedanke drehte sich um die Anhaltspunkte, die sie am Vorabend von Helen Fuller erfahren hatte. Die Zeugin hatte von einem Mann gesprochen, der sich bei Sheila Moreno im Gästezimmer eingenistet hatte. Diese Aussage hatte bei allen zunächst Irritationen ausgelöst, denn der Raum hatte völlig unbewohnt gewirkt. Dann waren sie zu dem Schluss gekommen, wer auch immer sich dort aufgehalten hatte, war mit Morenos Tod verschwunden und hatte sich Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen. Dennoch waren brauchbare Fingerabdrücke gefunden worden, die nicht der Hausherrin selbst gehörten. War der Unbekannte auch der Mörder?
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