Aus dem Christentum musste sich der Sufismus deshalb zurückziehen, weil allmählich alles zum Ritual gemacht wurde. Aus dem Jainismus musste er sich zurückziehen, weil alles zu kopflasstig wurde, weil zuviel Gewicht auf Philosophie und Theologie gelegt wurde.
Vergesst es nicht: der Sufismus ist keine Kirche. Und er gehört keiner Religion an. Aber alle Religionen, sofern sie lebendig sind, gehören zum Sufismus. Er ist der weite Himmel, der sich über ein ganz bestimmtes Bewusstsein spannt.
Was bedeutet das? Wie wird man ein Sufi? Jedenfalls nicht, indem man einem ganz bestimmten Orden beitritt; sondern indem man sich vom Kopf zum Herzen fallen lässt. So wird man zum Sufi. Man kann sein Leben von zwei verschiedenen Punkten her leben. Entweder man lebt vom Kopf her – das bringt Erfolg in der Welt. So kommt man zu Reichtum, Ansehen, Macht. Zum Beispiel wird man ein erfolgreicher Politiker. In den Augen der Welt wird man so zum beispielhaften Vorbild. Innen allerdings scheitert so einer völlig, scheitert er restlos – denn der Kopfmensch kann die Innenwelt nicht betreten. Der Kopf orientiert sich nach außen; er öffnet sich für das „Andere“. Das Herz geht nach innen; es öffnet sich zu dir selber hin. Und man kann entweder als Kopfmensch leben oder man kann als Herzensmensch leben. Wenn sich deine Energie, deine Lebensenergie, vom Kopf zum Herzen verlagert, wirst du zum Sufi.
Ein Sufi ist ein Mensch des Herzens, ein Mensch der Liebe. Er ist jemand, der sich keine Gedanken darüber macht, wo dieses Universum herkommt, der sich nicht darum kümmert, wer es erschaffen hat, der nicht fragt, wo die Reise hingeht. Ja, ein Sufi stellt überhaupt keine Fragen – nein, er fängt lieber gleich zu leben an. Das Dasein ist da: nur Narren befassen sich mit der Frage, woher es kommt. Ich sage: nur Narren. Sie mögen sich noch so sehr mit klugem philosophischem Abrakadabra tarnen, aber Narren sind sie trotzdem. Ein weiser Mensch lebt das Leben. Es findet hier und jetzt statt. Warum sich also darüber Gedanken machen, wo das Leben herkommt? Wen kümmert es dann, woher es kommt? Ob es nun jemand geschaffen hat oder nicht, ist doch völlig irrelevant. Du bist da, in dir pocht ein Herz, in deinen Adern fließt Leben – tanze mit der Schöpfung! Lebe das Leben! Sei es! Und öffne ihm und seinem unendlichen Geheimnis dein ganzes Inneres.
Und das Wunder ist: einer, der sich nicht fragt, woher es kommt, einer, der überhaupt nicht fragt – genau der erhält Antwort. Ein Mensch, der nicht neugierig ist, sondern lieber gleich das jetzige Leben feiert – der es feiert, ohne wie und was und warum zu fragen – der stößt plötzlich auf die Quelle, auf den Ursprung, auf den Angelpunkt aller Dinge. Anfang und Ende treffen sich in ihm selbst – denn nun ist er zum Mysterium geworden.
Jetzt ist das Mysterium nicht länger etwas „da draußen“, ein Gegenstand, um den man immerzu kreist, den man beäugt und von außen beguckt und begutachtet. Nein – das führt zu gar nichts, so geht man immer nur daran vorbei. Ihr könnt bis in alle Ewigkeit im Kreis herumgehen, aber damit dringt ihr niemals bis zur Mitte vor. Wie könnt ihr sie jemals so kennen lernen? Ihr geht um den heißen Brei herum! Ihr wollt in die Mitte vorstoßen, indem ihr auf der Kreislinie bleibt. Es geht aber leider nicht anders: ihr müsst schon selber in den Kreis eindringen und bis zur Mitte vorstoßen… selber zur Mitte werden. Und das ist möglich: denn du bist Teil der Mitte.
Ja, du kannst zur Mitte werden, denn sie ist Teil von dir… Dann plötzlich lösen sich alle Fragen in Rauch auf. Plötzlich ist die Antwort da. Nicht etwa, dass ihr endlich die Lösung eurer Probleme gefunden hättet. Nein. Es gibt überhaupt keine Probleme mehr. Und wenn es keine Probleme gibt, habt ihr zum ersten Mal eure ganzen Kräfte voll zur Verfügung: die Kraft, jenes Geheimnis zu leben, das sich Leben nennt; die Kraft, Gott zu leben; die Kraft, selber Gott zu sein.
Ein berühmter Sufi – vielleicht kennt ihr seinen Namen schon – Al Hillaj Mansoor – wurde von den Muslimen getötet, weil er gesagt hatte: „ Anal Hak “ – Ich bin Gott. Wer in das Geheimnis des Lebens eindringt, ist kein Beobachter mehr, denn ein Beobachter ist immer ein unbeteiligter Außenseiter; nein, man verschmilzt mit ihm. Du schwimmst nicht etwa im Fluss, du treibst nicht etwa mit der Strömung, du kämpfst nicht etwa gegen sie an – nein, du wirst zum Fluss. Plötzlich erkennst du: die Welle gehört untrennbar zum Fluss. Wir sind nicht nur Teil von Gott – Gott ist auch Teil von uns.
Als Al Hillaj Mansoor erklärte: „Ich bin Gott!“, brachten ihn die Muslime um. Der Sufismus wird immer umgebracht – und zwar von den religiösen Leuten, den so genannten religiösen Leuten; denn sie können ihn nicht ertragen. Sie können es nicht mit anhören, wenn ein Mann von sich behauptet, er sei Gott! Das verletzt ihr Ego zutiefst. Wie kann ein Mensch Gott sein? Aber wenn ein Mansoor sagt, „Ich bin Gott“, dann will er damit keineswegs sagen: „Ich bin Gott, aber nicht ihr!“ Er sagt nicht: „Ich bin Gott – die Bäume dagegen nicht.“ Er sagt nicht: „Ich bin Gott – aber nicht diese Steine und Felsen.“ Wenn er sagt: „Ich bin Gott“, dann meint er damit, dass alles und jedes göttlich und heilig ist. Alles ist göttlich.
Was taten also diese Leute, diese Fanatiker und orthodoxen Dogmatiker? Sie argumentierten so: Gott hat den Menschen erschaffen, der Mensch ist also nur Kreatur, niemals der Schöpfer selbst; also ist es Gotteslästerung – eine unerhörte Gotteslästerung, die schlimmste, die es geben kann – zu behaupten, man sei selber Gott. Also töteten sie ihn…
Und was sagte Mansoor, während sie ihn umbrachten? Er rief laut zum Himmel: „Du kannst mich nicht täuschen! Selbst in diesen Mördern kann ich dich erkennen – du kannst mich nicht täuschen. Du bist hier, sogar in diesen Mördern! Gleich in welcher Form du kommst, mein Gott, ich erkenne dich doch, denn ich habe dich längst erkannt.“
Der Sufismus denkt nicht über das Dasein nach – Sufismus heißt, das Dasein selbst zu sein. Er denkt nicht nach und greift nicht irgendwie in das Dasein ein. Er ist weder Gedanke noch Tat. Er ist Sein. Und jetzt in diesem Augenblick kannst du ohne weiteres Sufi sein.
Wenn du zu denken aufhörst und dich von der Zwangsvorstellung, irgendetwas tun zu müssen, wenn du also die fixe Idee aufgeben kannst, ein denkender und tätiger Mensch sein zu müssen, wenn du dich damit begnügst, einfach nur zu sein – dann ist plötzlich ein Sufi aus dir geworden. Und allein darum geht es mir bei diesen Gesprächen über den Sufismus: nicht darum, euch zu indoktrinieren oder euch noch gescheiter zu machen, sondern darum, euch in Sufis zu verwandeln.
Die Sufis singen; sie predigen nicht. Denn das Leben ist ein Lied und keine Kanzelpredigt. Und sie tanzen, anstatt über Dogmen zu reden, denn Tanz ist lebendig, das Tanzen ist der Schöpfung viel näher – den Vögeln, die in den Bäumen zwitschern, dem Wind, der durch die Föhren rauscht. Tanzen ist wie das Rauschen des Wasserfalls, wie das Niederprasseln des Regens, wie das Gras, das wächst. Das ganze Leben ist ein Tanz, bebend und pulsierend vor unerschöpflicher Lebendigkeit.
Die Sufis tanzen gern. Sie interessieren sich nicht für Dogmen. Und schöne Geschichten erzählen sie. Das Leben ist nicht Geschichte, sondern eine Geschichte. Und die Sufis haben herrliche kleine Geschichtchen erfunden. Sie sind leicht misszuverstehen, wenn man nicht tiefer blickt. Oberflächlich betrachtet sind sie eher wie ganz gewöhnliche Anekdoten. Aber wenn ihr tiefer blickt, sind Sufi-Geschichten voll Bedeutung, sind sie voll von bedeutsamen Hinweisen auf die höchsten und letzten Dinge. Ich werde euch also ein paar von diesen Geschichten erzählen und sie im Einzelnen besprechen, damit ihr zu diesem versteckten Kern vordringen könnt. Aber auch, damit ihr ein paar Dinge über das Herz verstehen lernt; und damit ihr ermuntert werdet, mit eurer ganzen Energie, eurem ganzen Wesen die Reise zum Herzen anzutreten.
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