An dieser Stelle ist Jean-Paul Sartres Unterscheidung zwischen dem Rebellen und dem Revolutionär von Nutzen. Laut Sartre steckt der Rebell heimlich mit der Ordnung, gegen die er rebelliert, unter einer Decke. Sein Ziel ist es nicht, ein neues, besseres System zu schaffen; er will einfach nur die Regeln brechen. Im Gegensatz dazu ist der Revolutionär konstruktiv. Sein Ziel ist es, ein ungerechtes System durch ein neues, besseres zu ersetzen; er ist diszipliniert und bereit, Opfer zu bringen. Aufgrund seiner Verantwortungslosigkeit hat der Rebell Zugang zu ausschweifender Ekstase und kann im Jetzt leben. Dem Revolutionär ist es Befriedigung genug, seine Identität mit dem kollektiven Projekt eines gesellschaftlichen Fortschritts zu verschmelzen, dessen Erfüllung in der Zukunft liegt. Wir gehen davon aus, dass Rock keine revolutionäre Kunstform ist, dass sein Ungehorsam und die Trotzanfälle seines Egos Hand in Hand mit den Konditionen von Kapitalismus und Patriarchat gehen.
Die zentrale Kränkung des Rebellen liegt darin, dass ein patriarchales System seinem wilden Wesen Einhalt gebietet und ihm stattdessen ein Leben voller Mittelmäßigkeit vorsetzt. Er verkommt zu einem Zahnrad in der Maschine, während er vom Leben eines Helden träumt. Währenddessen wird den Frauen nur die Alternative gelassen zwischen dem Status quo des Patriarchats und dem Filiarchat der Rebellen, der Rock-’n’-Roll-Bruderschaft der verlorenen Söhne. Zu oft bleibt Frauen hier als Raum der Selbstentfaltung nur die Rolle der Muse, der Gangsterbraut oder des Groupies übrig: Sie stehen am Rand und beobachten die Heldentaten der Männer voller Bewunderung.
»Wir sind hier die Opfer einer Matriarchie, mein Freund.«
Harding, Insasse der Psychiatrie in Ken Keseys Einer flog über das Kuckucksnest (1962)
Die Rock-’n’-Roll-Rebellion kam in etwa zur gleichen Zeit auf wie der Nachkriegs-»Momism«, eine seinerzeit angesagte Kulturkritik, die Mütter als den Ursprung des Großteils der verschiedenen Übel Amerikas ausmachte. Der Begriff »Momism« stammt aus Philip Wylies Generation of Vipers von 1942, einer ungehalten frauenfeindlichen Tirade gegen den Verfall amerikanischer Kultur durch »die zerstörerische Mutter«. Wylie argumentierte, Amerika sei von Materialismus und oberflächlicher Populärkultur verschlungen worden – und beides bringt er mit Frauen in Verbindung. Seifenopern, Mode, Fernsehen, Radio, sentimentale Popsongs, Hollywood, Kaufhäuser – all das seien »verkommene« Auswüchse der Massenkultur mit dem Zweck, weibliche Sensibilitäten anzusprechen und die zügellose Freiheit amerikanischer Kultur zu unterjochen. »Das Radio ist die schwerste Waffe der Mutter, denn es zwingt jedem, der zuhört, die Marke des Matriarchats auf«, wütete Wylie, als stünde der Weltuntergang unmittelbar bevor (ein paar Jahre später hätte er den Schuldigen sicher im Fernsehen gefunden). Wylie machte Stimmung gegen die Tyrannei der Massenmedien, die sich in matriarchaler Sentimentalität, Verlogenheit, Schmalz und verborgener Grausamkeit äußere und einen Vorboten des Todes der Nation darstelle.
In ihrer Analyse von Wylies Werk merkt Jacqueline Rose an, dass die Gefahren von Weiblichkeit und Massenkultur in einer intimen Beziehung zueinander stünden. Unter Kritikern der 1940er und 1950er war diese Verbindung von Popkultur und Frauen weit verbreitet. So behauptete Dwight MacDonald 1953 in seinem Essay »A Theory of Mass Culture«, dass Durchhaltevermögen die wichtigste Tugend derjenigen sei, die der Verbreitung des Drecks der Massenkultur trotzten. Ironischerweise kam dieser auf Geschlechterfragen basierende Elitismus später in Form der Unterscheidung von Rock und Pop innerhalb der Popkultur selbst wieder auf. Hier wird die korrekte Rezeption (männliches Kennertum, anspruchsvolles Unterscheidungsvermögen) der verkommenen weiblichen Fanverehrung (oberflächlich, hysterisch, gleichzeitig wahllos und loyal) entgegengestellt.
Die negative Konnotation von Popkultur und Weiblichkeit hat eine lange Geschichte. Andreas Huyssen führt sie auf Gustave Flauberts Madame Bovary zurück – ein Buch, in dem einer der Väter der Moderne das wenig schmeichelhafte Porträt einer von romantischer Literatur verdorbenen Frau zeichnete. Dieser Reflex hat weiterhin Bestand. In »She Watch Channel Zero?!« (vom Album It Takes a Nation of Millions to Hold Us Back , 1988) werfen Public Enemy schwarzen Müttern ihre Vorliebe für Soaps und Talkshows wie der von Oprah Winfrey vor, wegen der sie ihre eigentliche Pflicht – die Erziehung starker schwarzer Krieger – vernachlässigen würden. Auf dem Titeltrack seines 1993er-Albums Home Invasion richtet sich die Feindseligkeit des Gangsterrappers Ice T gegenüber dem weißen Amerika spezifisch gegen »yo moms« (vielleicht wegen des matronenhaften öffentlichen Images des Parents Music Resource Centers, das sich für die Zensur von Rockmusik einsetzte 1 ). Die Bedrohung, die Ice T so lustvoll zelebriert, liegt in seinem Einfluss auf weiße Kids begründet, die damit aufwachsen, schwarz und gerissen sein und die Ketten der spießigen Werte ihrer Mütter sprengen zu wollen.
Im Nachkriegsamerika verknüpfte sich die Furcht vor Momism mit anderen Ängsten, etwa vor dem Kommunismus oder der Demokratisierung der Kultur. Wie der Pseudo-Freudianismus, von dem er letzten Endes abstammt, drang auch der Anti-Momism in die Popkultur selbst vor: als Möglichkeit, jemandem für den ausdruckslosen Konformismus im Amerika der 1950er die Schuld zu geben. Frauen und Mütter galten als die Verwalterinnen der Häuslichkeit (statt als das, was deutlich näher liegen würde, nämlich als ihre größten Opfer), die ihre Ehemänner dem 9 to 5 -Regime des Broterwerbs als Sklaven überlassen. Mütter waren demnach auch schuld an der Kriminalität, weil sie ihre Söhne schlecht erzogen, indem sie diese mit ihrer Liebe überschütteten. In dieser seltsamen Doppelmoral wurden Frauen gleichzeitig als Architektinnen des konventionellen Lebens – mit all seinen Einschränkungen und Fesseln für die männliche Ungezähmtheit – und als die sichtbarsten Opfer desselben betrachtet: zugleich Kastrierende und Kastrierte.
Diese pseudo-freudianische Analyse zog sich durch die Massenkultur der 1950er/60er, durch Filme wie Wie bringt man seine Frau um? oder Psycho – Norman Bates ermordet seine Mutter, weil er die nahezu inzestuöse Intimität zwischen den beiden durch ihre geplante Wiederverheiratung gefährdet sieht und verinnerlicht dann ihre Persönlichkeit aus Schuldgefühlen. Wann immer Norman eine Frau attraktiv findet, ist diese Phantom-Mutter genauso eifersüchtig und zwingt ihn, ihre Rivalin aus dem Weg zu räumen. Mehr Bezug zu Rock ’n’ Roll hat der ungezügelte Anti-Momism von … denn sie wissen nicht, was sie tun . Gleich zu Beginn macht der Film in einer Szene, in der der betrunkene, undisziplinierte James Dean einem verständnisvollen Polizisten sein Herz ausschüttet, klar, dass die Verfehlungen des Teenagers seine dominante Mutter und seinen schwachen Vater zur Ursache haben. Sein Zuhause beherbergt sogar zwei kastrierende Mütter, denn seine Großmutter mütterlicherseits lebt ebenfalls mit im Haushalt. Und so jammert Dean: »They eat [Dad] alive … they make mush out of him, just mush«, und er fügt hinzu: »If he had the guts to knock Mum cold once, then she’d be happy and stop picking on him.« Das Leiden seines Charakters liegt in der Abwesenheit eines starken väterlichen/männlichen Prinzips begründet, mit dem er sich identifizieren könnte. Ohne dieses ist er der monströsen Herrschaft der Frauen schutzlos ausgeliefert.
John Osbornes Blick zurück im Zorn spielte für eine Generation unzufriedener Jugendlicher in Großbritannien eine ähnliche Rolle wie … denn sie wissen nicht, was sie tun in den USA. Oberflächlich betrachtet liest sich das Theaterstück als beißende Antwort auf den Niedergang Großbritanniens nach dem Ende des Empires, auf die Schwerfälligkeit der 1950er, als sich die Hoffnungen auf einen Wiederaufbau, die während des Zweiten Weltkriegs geweckt wurden, als leer entpuppten und die konservative Regierung versuchte, eine glanzlose Version der gesellschaftlichen Ordnung vor dem Krieg zusammenzuflicken. So zumindest wurde das Stück sowohl von der Fan- als auch der Gegenseite aufgefasst. Doch der psychosexuelle Subtext von Blick zurück im Zorn ist dem von … denn sie wissen nicht, was sie tun sehr ähnlich: die Absenz eines starken patriarchalen Prinzips zur Identifikation, das Leid junger Männer in einer herrenlosen Welt voller impotenter Väter, und über allem thront eine bösartige Furcht und Abscheu vor Frauen, den Repräsentantinnen einer alles durchziehenden Mittelmäßigkeit.
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