Der Großteil dieser Neuauflage von Sex Revolts entspricht dem Original von 1995. Ausnahmen sind Korrekturen einer vernachlässigbaren Anzahl an Fehlern, ein paar Änderungen hinsichtlich einiger Formulierungen, mit denen wir nicht mehr glücklich waren, und hie und da wurden ein paar Informationen hinzugefügt, die unsere Argumentation untermauern oder erweitern, ohne dass der Lesefluss darunter leiden würde.
Das Kapitel »Critical Bias«, das wir 1995 gestrichen haben, wurde wieder eingefügt. Damals musste es einerseits aus Platzgründen weichen, aber auch, weil es sich mehr wie eine Zusammenfassung der Ideen anderer anfühlte und nicht wie eine Eigenleistung. Heute jedoch scheint es uns aus genau diesem Grund ein nützlicher Beitrag zum Buch zu sein: Es sieht sich verschiedene ideologische Stränge innerhalb des Musikjournalismus an, deren Auseinandersetzungen mit Bedeutung und Zweck von Musik oft selbst auf gegenderten Annahmen oder schlicht maskulinistischer Voreingenommenheit basieren. Auf gewisse Weise nimmt dieses Kapitel die Debatte von Rockismus vs. Poptimismus vorweg, die in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts von der damals neuen Blogosphäre aus bis in die New York Times wütete.
Ein komplett neues Buch zu schreiben, das all die beeindruckenden Künstlerinnen (Missy Elliott, Beyoncé, Lady Gaga, Janelle Monáe, M.I.A., Nicki Minaj, Mica Levi, Grimes, Kesha und viele mehr) beinhaltet, die seit dem Erscheinen von Sex Revolts auf der Bildfläche erschienen sind, wäre eine Aufgabe, die wir im Moment nicht bewältigen könnten. Dasselbe gilt für eine Erweiterung der Kritik in den ersten beiden Teilen des Buches auf passende Künstler wie Odd Future, Animal Collective, Ariel Pink, Kanye West etc. Allerdings ist es erwähnenswert, dass nicht nur der Geist der Rockrebellion, sondern auch das Wort »Rockstar« selbst seit ein paar Jahren im HipHop eine neue Heimat gefunden haben: Future nennt sich selbst den »Future Hendrix«, Rae Sremmurds »Black Beatles« und Post Malones »Rockstar« waren beide auf Platz eins der Billboard-Charts. Im gegenwärtigen Rap – vor allem im Subgenre Trap – leben die Ungezähmtheit und der sich selbst glorifizierende Exzess des Classic Rock weiter (im Gegensatz zu moderner Gitarrenmusik, einer insgesamt ziemlich zahmen Angelegenheit). Leider geht diese aufregende Grandiosität auch mit dem alten rockistischen Rollenspiel aus Machotum und Misogynie einher.
Viele der wichtigen Künstler – weiblich wie männlich –, die in den vergangenen 25 Jahren aufgetaucht sind, passen sehr gut in das Muster und die Kategorien von Sex Revolts . Zur Erweiterung haben wir darum eine Auswahl von Artikeln angefügt, die wir in den letzten zwei Dekaden über bestimmte Künstlerinnen und Künstler verfasst haben. Manche – wie Kathleen Hanna – kamen schon im ursprünglichen Buch vor, doch ihre Porträts gewinnen in diesen Artikeln an Tiefe und Schärfe. Andere Texte behandeln neue, aufstrebende Künstlerinnen und Künstler.
Unser Dank gilt allen beim Ventil Verlag, unserem kompetenten und gewissenhaften Übersetzer Jan-Niklas Jäger, Christina Mohr dafür, dass sie den deutschen Lobgesang auf das Buch angeführt hat, und euch, den Leserinnen und Lesern.
Joy Press und Simon Reynolds, April 2018
1 Ein Buch, das Sex Revolts als Quelle nennt.
2 Als Yippies wurden Anhänger der anarchistischen, Ende der 1960er in den USA aktiven Youth International Party (YIP) bezeichnet. Anm. d. Ü.
3 Die Umschreibung »libidinöse Ökonomie« bezieht sich auf das gleichnamige Buch von Jean-François Lyotard. Vgl. Jean-François Lyotard: Libidinöse Ökonomie . Berlin/Zürich: Diaphanes 2007.
4 Männer, die nicht wissen, wer sie sind oder wie sie sich verhalten sollen in einer Zeit, in der körperlich fordernde Arbeit von Kopfarbeit – dem Verarbeiten von Informationen – verdrängt wurde und in der die meisten Männer nicht beim Militär dienen müssen.
Als wir dieses Projekt angegangen sind, wussten wir: Ein solches Buch ist dringend nötig, aber wir waren uns nicht sicher, wie genau es aussehen würde. Wenn wir anderen von unserem Thema – Gender und Rock – erzählten, sorgte das für unglaublich intensive und unterschiedliche Reaktionen, die uns gleichzeitig verwirrten und umso mehr von unserem Vorhaben überzeugten. Es war, als hätten wir unseren Freunden einen Rorschachtest vorgelegt: Alle sahen etwas anderes. Manche Frauen erzählten uns von Songs, die sie liebten, doch deren Texte sie irritierten. Viele Männer dagegen nahmen an, dass es ein Buch über die olle Kamelle »Frauen im Rock« werden würde, als gäbe es irgendeinen Grund, Männer von der »Gender«-Kategorie auszuschließen. Andere gingen bei der bloßen Erwähnung des Wortes »Frauenfeindlichkeit« in die Defensive – wenn sie nicht sogar gleich zum Gegenangriff bliesen.
Jeder schien das Gefühl zu haben, dass bei einer Untersuchung des Rock ’n’ Roll »durch die Gender-Linse« etwas auf dem Spiel stand. Rock bietet uns einen imaginären Raum, in dem wir unsere sexuelle Identität bekräftigen oder herausfordern können. Manchmal bietet er uns sogar die Möglichkeit, ihre Beschränkungen völlig hinter uns zu lassen. Suzanne Moore nennt diese fantasiereiche Aktivität »Gender-Tourismus«. Das kann bedeuten, dass man dahin geht, wo das Gras grüner zu sein scheint, einen walk on the wild side unternimmt, einen Billigurlaub im Elend anderer macht oder schlicht sein Alltags-Ich überwindet. Eher schüchterne Frauen entdecken die Wildheit der Rolling Stones oder der Sex Pistols, Männer mit dicker emotionaler Haut können mit Androgynität experimentieren, während Weicheier »Soldaten spielen«, indem sie sich als Krieger fantasieren oder sich dem Größenwahn hingeben.
Sex Revolts begann als Kritik von Misogynie im Rock, entwickelte sich dann zu einer Studie über die Darstellung von Weiblichkeit in dessen Vorstellungswelt und wurde schließlich zu dem, was es jetzt ist: eine Quasi-Psychoanalyse der Rebellion (männlich wie weiblich). Im ersten Teil, »Die Misogynie der Rebellen«, untersuchen wir, wie sich männliche Rebellen gegen das »Feminine« positioniert haben. Das beinhaltet den Born to run- Impuls (Rolling Stones, Iggy Pop), den Soldaten oder Krieger, der in der Kameradschaft unter Waffenbrüdern Zuflucht findet (The Clash, Public Enemy), sowie selbstverherrlichende Allmachtsfantasien, sei es in Form einer Art Mensch-Maschine (Heavy Metal, Techno) oder einer königlichen Herrschaft (The Doors, Nick Cave, Gangsta Rap).
Der zweite Teil, »Von Rebellion zu Anstand«, untersucht idealisierte Darstellungen von Frauen und Weiblichkeit im männlichen Rock – die schier endlosen Fälle, in denen es um die Sehnsucht nach Heimat, einer Rückkehr in den Mutterleib geht, oft in Form eines kosmischen/ozeanischen Mystizismus oder einer Huldigung von Mutter Natur. Dieser Tradition – der des psychedelischen Muttersöhnchens – folgen The Byrds, Van Morrison, Pink Floyd, Can, Brian Eno, My Bloody Valentine und andere.
Im dritten Teil, »Sex Revolts«, sehen wir uns an, wie Künstlerinnen versucht haben, eine speziell weibliche Rebellion auf die Beine zu stellen, was auch verlangt, gegen alle Widerstände konventionelle Vorstellungen von Weiblichkeit hinter sich zu lassen. Wir konzentrieren uns auf die aufschlussreichsten Strategien: Maskerade/Mystik (Kate Bush, Siouxsie, Annie Lennox, Grace Jones), Entmystifizierung konventioneller Weiblichkeit (The Slits, The Raincoats, Riot Grrrl), die mit dem Bild des Tomboys verknüpfte Nachahmung männlicher Rebellion (Joan Jett, L7), persönliche Offenbarung (Janis Joplin, Lydia Lunch, Hole) sowie Künstlerinnen, die Widersprüche in sich vereinigen und die stete Veränderung feiern (Patti Smith, Throwing Muses, Mary Margaret O’Hara).
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