SIMON REYNOLDS
Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann
Aus dem Englischen von Chris Wilpert
Simon Reynoldswurde 1963 in London geboren. Er lebt mittlerweile in seiner Wahlheimat Los Angeles. Neben dem Standardwerk über die Post-Punk-Ära Rip It Up And Start Again hat er u.a. gemeinsam mit seiner Ehefrau Joy Press The Sex Revolts – Gender, Rebellion & Rock’n’Roll geschrieben. Reynolds arbeitet für The Wire, New York Times, The Guardian, Rolling Stone etc. und hat mit Blissblog eine eigene Netzpräsenz.
Chris Wilpertist Literaturwissenschaftler und Mitherausgeber der testcard . Er übersetzte gemeinsam mit Martin Büsser für den Ventil Verlag Punk Rock von John Robb, veröffentlichte mit dem Zitatpop-Projekt 4‘33“ eine Kassette und sammelt Reissues von Italo-Western.
Didi Neidhart,geboren 1963, Chefredakteur von skug – Journal für Musik , ist Autor, DJ und Musiker.
Copyright © 2011 by Simon Reynolds.
All rights reserved.
Originaltitel: »Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past«, erschienen bei Faber and Faber Ltd.
Großbritannien
© der deutschen Übersetzung:
Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG,
Mainz, Oktober 2012
Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages. Alle Rechte vorbehalten.
2. Auflage 2013
ISBN 978-3-931555-29-0
eISBN 978-3-955756-08-6
Layout: Oliver Schmitt
Druck: fgb, Freiburg
Ventil Verlag
Boppstr. 25, 55118 Mainz
www.ventil-verlag.de
In Erinnerung an meinen Bruder Tim. Und in Liebe meinen lebenden Brüdern Jez und Hugo .
Immer Ärger mit dem Rückspiegel
Vorwort zur deutschen Ausgabevon Didi Neidhart
Das Jahrzehnt des »Re«
Einleitung
Prolog: Don’t Look Back
Nostalgie und Retro
TEIL EINS: »JETZT«
Pop will repeat itself
Museen, Reunions, Rockdokus, Reenactments
Die totale Erinnerung
Musik und Gedächtnis im YouTube-Zeitalter
Lost in the Shuffle
Plattensammeln und der zwielichtige Umgang mit Musik als Objekt
Gute Zitate
Der Aufstieg des Rock-Kurators
Turning Japanese
Das Reich des Retro und die Hipster-Internationale
TEIL ZWEI: »DAMALS«
Merkwürdige Verwandlungen
Mode, Retro und Vintage
Die Zeit zurückdrehen
Revival-Kulte und Zeitschleifen-Stämme
No Future
Die reaktionären Wurzeln des Punk und sein Retro-Nachspiel
Rock On (and On) (and On)
Das endlose Fifties-Revival
TEIL DREI: »MORGEN«
Die Geister der vergangenen Zukunft
Sampling, Hauntology und Mashups
Out Of Space
Sehnsucht nach der Zukunft
(Eine kurze Rückkehr in die) Retrolandschaft
Der Schock des Altbekannten
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts
POSTSKRIPT
Recreativity
Die Hinterfragung des Innovations- und Originalitätsmythos
Danksagungen
Bibliografie
Index
Immer Ärger mit dem Rückspiegel
Vorwort zur deutschen Ausgabe
von Didi Neidhart
In Retromania konstatiert Simon Reynolds eine Epoche, in der sich Popmusik zunehmend durch eine immer schnellere Abfolge von Retroschleifen um sich selber dreht und bei dieser permanenten Rückschau auf das Immergleiche, schon einmal Dagewesene langsam zum Stillstand kommt. Box-Sets über Box-Sets mit zig Bonus-Outtakes, Reunions von Bands, komplett nachgespielte Alben-Klassiker als Live-Spektakel und eine Tonträgerindustrie, die als Ausdruck ihrer Retro-Ökonomie nun auch in Europa das Leistungsschutzrecht an Tonaufnahmen von 50 auf 70 Jahre erhöht: Das ist nur die Speerspitze einer Entwicklung, die Pop immer mehr zu einer musealen Angelegenheit macht, bei der Archive (bzw. die von Reynolds beschriebenen »Anarchive«) eher zu End- denn zu Ausgangspunkten popistischer Praxis werden. Pop hat sich damit, gerade nachdem er in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, quasi von der Welt abgekoppelt. Hat seine Kommentarfunktion wie seine Other- und Outerness verloren, kennt keine unzeitgemäßen Betrachtungen und Herangehensweisen mehr und macht es sich dort gemütlich, wo die Retro-Ökonomie ohne große Risiken Rendite einfahren kann, weil sich dieses oder jenes Revival schon einmal auf dem Pop-Aktienmarkt mit einer super Gewinnausschüttung bewährt hat.
Mit dem Begriff »Retromania« habe Simon Reynolds »die neue Zivilisationskrankheit diagnostiziert und mit dem gleichnamigen Buch den aktuellen Diskurshit gelandet«, schreibt Klaus Walter in der Süddeutschen Zeitung .
Und Retromamia war tatsächlich das meist rezipierte Buch über Popmusik der letzten Jahre, dem einzelne Zeitungen und Magazine gleich mehrere durchaus kontroverse Artikel gewidmet haben. Denn Reynolds macht es einem wirklich nicht leicht mit seiner Passage, die er durch den retromanischen Dschungel schlug.
Doch worum geht es? Es geht u. a. um das Abhandenkommen von »Future« als Paradigma der Popmusik, ein Paradigma, das sich – im Mainstream wie in den Nischen – ironischerweise ab dem Zeitpunkt verflüchtigte, als das »No Future«-Setting des Kalten Kriegs (atomare Bedrohung, Wettrüsten) in sich zusammenfiel und die Jahreszahl 2000 wirklich im Kalender stand. Reynolds argumentiert daher auch eher »aus der Haltung des enttäuschten Emphatikers« heraus, »der sich die Gegenwart anders vorgestellt hat, als sie noch Zukunft hieß« (Rabea Weihser in Die Zeit ).
Retromania beschwört ein Früher, als Pop noch von anderen Orten, Welten, Universen sprach und gleichsam im Jetzt andere Zeitrechnungen einführte, um vom Anderen, Kommenden zu erzählen. Kurz, eine Zeit, als Pop noch ein utopisches Begehren hatte und ein »Back to the Future« noch kein rückwärts gewandtes »Back to the Back« bedeutete, sondern vorwärts blickte, um die Gegenwart umzuschreiben.
Nur, was tun, wenn jeder »Blast From the Past«, jedes »Back From the Grave« in den eigenen Ohren nur noch nach Farce oder Tragödie klingt und sich die Musikleidenschaft immer mehr in ein melancholisches Leiden an der Musik verwandelt?
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