Da Reynolds auf einen Theorientwurf verzichtet und beizeiten geschmäcklerisch argumentiert, fällt seine Kritik an den Nullerjahren entsprechend aus: »Anstatt sich mit sich selbst zu beschäftigen, drehten sich die 2000er um alle vorangegangenen Jahrzehnte auf einmal.« Dabei verkennt er den ideologischen Kern der großen Erzählungen des »Pop-Selbst«. Die konnten sich ja nur durchsetzen, indem sie Anderes radikal ausklammerten. Dass in diesem Zusammenhang bei Reynolds auch »Dekadenz« als Beschreibung des von ihm nicht geschätzten Ist-Zustands dient, macht die Angelegenheit nicht gerade leichter. Zu sagen, alles sei nur »Ersatz« (dekadente Second-Order-Hipness ohne »wahren Kern«) und frühere Revivals hätten sich noch »echt angefühlt«, ignoriert, dass, wer sich mit dem »Pop-Selbst« ins Bett legt, am Morgen danach mit dem Gegenteil von Pop aufwachen kann.
Verlaufen sich nicht auch die Futuremaniacs bei ihrer permanenten Jagd nach dem ganz Neuen und landen so selber in einem endlosen Loop? Mehr noch: Die Fixierung auf den neuesten Schrei verhindert geradezu das längere Eintauchen in eine Musik, einen Act, ein Genre. Was bleibt, sind die ewigen Altvorderen – wohingegen eine Musik, die im November 2012 nach Juli 2012 klingt, schon total out sein kann.
Hier zeigt sich auch der grundsätzliche Zwiespalt, mit dem jeder »enttäuschte Emphatiker« zu kämpfen hat, wenn die Enttäuschung einen kulturpessimistischen Doppelgänger generiert: Es kommt zu einer Verstrickung in zig Widersprüche (von denen wiederum jeder einzelne eine Menge produktiver Denkprozesse in Gang setzen kann).
Kann, aber nicht muss. Denn am Phänomen »Retromania« hat auch jener Popjournalismus der Nullerjahre mitgearbeitet, der gleichzeitig durch das zynisch-fadisierte Mantra »Kenn ich schon, mag ich nicht« wie durch ein banales »Alt aber immer noch besser als …« gekennzeichnet ist.
Zudem gibt es kaum mehr subversive Lesarten von Pop jenseits der reinen Musikbesprechung (das Schreiben über Pop selbst ist in die Retro-Falle getappt, als die Theorie zum unnützen Orchideenfach erklärt und entsorgt wurde). Gerade die blöde, sagen wir ruhig un-campe, Anwendung von »Remake/Remodel« bietet die Möglichkeit, auch gleich mit dem »ganzen Scheiß der Postmoderne« (Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus, Gender/Queer Studies etc.) abrechnen zu können: Alles falsch, alles Mist. Das »Echte« setzt sich am Ende doch durch. Da es sowieso nichts Neues mehr gibt und weil deshalb nun belegbar am Anfang von Früher alles felsenfest besser (weil neuer) war, braucht es gar keine Artikel mehr über Neuerscheinungen und es kann stattdessen das Reissue, das Box-Set, die Reunion, das Comeback oder die neue CD alter Lieblinge in den Feuilleton-Himmel gelobt werden.
Im schlimmsten Fall kann Reynolds’ Retromania dann auch als Bestätigung all jener Box-Set- und Sixties-Fans gelesen werden, von denen Reynolds sich ja absetzen will.
Judith Butler hält in Haß spricht fest: »Es gibt keine Möglichkeit, nicht zu wiederholen.« Und aus diesem Loop ergeben sich bekanntlich immer wieder Möglichkeiten von »Fehlaneignungen« (aka »produktive Missverständnisse«). Butler ist jedoch nicht so naiv, die Skills (nachstellen, resignifizieren, überschreiben) uneingeschränkt als subversiv zu betrachten. In Körper von Gewicht behandelt sie Forman von Wiederholungen, »die nicht subversiv genannt werden« können, da sie zur »Festigung hegemonialer Normen«, der »Reidealisierung« statt »Destabilisierung« dienen. The-Bands und Neo Soul verschieben nicht das Zitierte, sondern etablieren es (handgespielter, verschwitzter Soul versus Cyber-R&B) erneut als hegemoniale Norm.
Erinnern wir uns nur an das Joy-Division-Revival im Zusammenhang mit dem Film Control . Joy Division wurden ins klassische Rocknarrativ eingeschrieben. Als New-Wave-Version der Doors konnten sie nun problemlos integriert und das subversive (politische) Programm von Post-Punk (gegen den Punkrock-Machismo, für bastardisierte, queere, multiethnische Bündnisse) entsorgt werden.
Solche Revivals ohne Nebenwirkungen exekutieren ein revisionistisches wie restauratives »Ende der Geschichte«, um es sich in einem idealtypischen Gestern gemütlich zu machen. »Legalize History« wird hier nur noch als weiteres Box-Set verstanden.
Deshalb kann die Ideologie der Revivals nicht von den Revivals der Ideologien getrennt werden. Was macht ausgerechnet die 80er als »Me-Age« so faszinierend für das von Reynolds diagnostizierte »Re-Age« der Nullerjahre? Welche Funktion hat das NDW- und Schlager-Pop-Revival der Berliner Republik vor dem Hintergrund einer Re-Nationalisierung durch Pop?
Nicht zuletzt brachte diese ideologische Retromanie im Schlepptau von The-Bands, Neo Soul und auch einzelnen Post-Dub-Step-Acts all das wieder auf, was in den 80ern aus guten Gründen angegriffen wurde: Wunderkinder, Genies, Talente, Selbstverwirklichung, Realness, live per Hand gespielte Instrumente (Madonna mit E-Gitarre, Laptop-Acts mit echtem Schlagzeug). Darauf konnten sich nun all jene wieder einigen, für die vor allem elektronische Tanzmusik eine »No-go-Area« war.
Vielleicht provoziert deshalb Reynolds’ Wechsel »vom Hardcore-Kontinuum schnurstracks ins Retro-Kontinuum« (Aram Lintzel in De:Bug ) so sehr. Hat nicht die Club- und Bassmusik ein gänzlich anderes Verständnis von Zeit und Raum (im Reggae heißen die Pausen/Breaks »Space«)? Gerade in der Popkultur stoßen wir dabei doch immer auf zwei unterschiedliche Positionen: Entsteht die Zeit aus dem Tun (dem Loop, der Wiederholung, den geringen Verschiebungen), oder entsteht das Tun aus der Zeit (der linearen Abfolge von Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, den großen Brüchen und Erzählungen)?
Pop schaute immer schon mit einem Auge in den Rückspiegel und hörte mit einem Ohr in die Vergangenheit. Einerseits um richtig rückwärts einparken, andererseits um überholen zu können. Auch Markus Heidingsfelder spricht in seiner Analyse System Pop (2012) von einer grundsätzlichen »Rückwärtsbewegung«, die Pop charakterisiert: »Das System (Pop) bewegt sich mit dem Rücken zur Zukunft.«
Problematisch wird das jedoch, wenn die Bewegungen des Einparkens und Überholens immer weniger zu unterscheiden sind. Nur ist das nicht immer so leicht zu differenzieren, kann doch die Frage »Bin ich noch Retro oder schon Future bzw. bin ich noch Future oder schon wieder Retro?« meist nur retrospektiv beantwortet werden.
Dennoch ist eine Unterscheidung möglich: Ein Sprung zurück in die Zeit ist etwas anderes als ein Gang zurück durch die Zeit. Ein Zeitsprung will zurück zu den »reinen Zeichen«, die jedoch nur um den Preis einer reaktionären Aneignung zu haben sind. Deshalb setzt etwa der Neo Soul alles daran, so zu klingen, als hätte es Hip Hop, House oder Techno nie gegeben, wohingegen sich Reynolds noch sehr genau an eine Zeit erinnert, in der allein die Vermutung, hier würde etwas »like Punk never happened« klingen, ausreichte, um die rote Karte zu zücken.
Andererseits braucht es immer ein »Second Coming«, damit etwas wirkungskräftig wird. Sonst bleibt es beim »done and gone« für elitäre Zirkel. Die ersten Platten der Rolling Stones mögen für Bluesfans schlimmste Retromanie gewesen sein, für andere jedoch ein folgenschwerer Erstkontakt mit Muddy Waters, Willie Dixon, Robert Johnson. Ebenso wären ohne Hip Hop viele rocksozialisierte Teens und Twens nicht auf den Geschmack von Soul und Funk gekommen, zwei Genres, um die es Ende der 70er/Anfang der 80er nicht gerade zum Besten stand, über die wenig in den Rocklexika zu finden war.
Vielleicht sollten wir uns Retro-Schleifen eher als Möbius-Schleifen denken. Analog zu Butler spricht Diederichsen in Eigenblutdoping daher auch vom »nicht Vorhersehbaren« im Loop, vom Kopfanstoßen, Auf-den-Arschfallen, Entgleisen, Ausrutschen: »Es ist dasselbe, mindestens zweimal von mir erlebt.« Und hier finden wir auch den Schlüssel zu dem Rätsel, warum manche Platten besser altern, als andere: »Wer im Immergleichen des Loops etwas Neues erlebt, hat es mit einem viel härteren Neuen zu tun, als wer dies in einer Struktur erlebt, in der das Auftreten des Neuen vorgesehen ist.«
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