Man muss gar nicht allzu weit blicken, um zu erkennen, dass sich Maskulinismus, Militarismus und die hyperindustrielle Ausbeutung von Mutter Natur auf der einen Seite befinden und Feminismus, Pazifismus und Umweltschutz logischerweise auf der anderen. In Sex Revolts verfolgen wir, wie sich diese Gegensätze in der Rockgeschichte spiegeln. Der Rockrebellion als einer dynamischen und dominierenden Abenteuerlust, die sich von den Zwängen des domestizierten Lebens löst und ihre Wildheit auf die Welt überträgt, setzen wir eine »soft-männliche« Passivität und eine von jeglichem Ego befreite Haltung entgegen, die ihren ersten Ausdruck in der Psychedelic und ihren Höhepunkt im Ambient findet (quasi eine Rebellion gegen die Rebellion).
Ein so deutlich umrissenes Schema läuft immer Gefahr zu übertreiben oder zu generalisieren: Blickt man einzig auf die größeren Wahrheiten dahinter, verpasst man die subtilen Ausnahmen. Andererseits will Sex Revolts aber auch gar nicht die komplette Rockgeschichte erzählen, weder des gleichnamigen Genres noch der dazugehörigen Kultur. Rock beinhaltet mehr als nur die Psychodynamik von Genderfragen: Da gibt es die elektrische Gitarre, die Tänze, das Konzept von Adoleszenz, die Kollision regionaler amerikanischer Musiktraditionen mit den Massenmedien, Drogen, Aufnahmetechnik und und und …
Aus diesem Grund berücksichtigt unsere Analyse der besprochenen Künstlerinnen und Künstler nicht alles, was an ihrem Werk oder ihrer Person interessant, wertvoll oder einzigartig ist. Wir versuchen uns an keinen definitiven Statements über das Werk und die Karrieren von, sagen wir, Nick Cave, Van Morrison oder Joni Mitchell. Das Werk wirklich origineller Künstlerpersönlichkeiten funktioniert über eine Interaktion unterschiedlicher Faktoren; ihre Kunst ist ein Schauplatz, an dem verschiedene historische Kräfte aufeinanderprallen und sich vermischen. In diesem Buch betrachten wir diese Interpretinnen und Interpreten aus einer spezifischen Perspektive – durch die Augen des Gender-Diskurses – und die hier präsentierten Ergebnisse entstehen aus dieser Perspektive heraus. Diese Herangehensweise bedeutet auch, dass viele wichtige oder einzigartige Figuren der Rockgeschichte nur flüchtig oder gar nicht vorkommen, einfach weil diese an Genderfragen orientierte Lesart zu keinen aufschlussreichen Erkenntnissen über sie geführt hat. Darum fehlen R.E.M., The Band, The Jam oder [hier eigenes Beispiel einfügen], obwohl sie wichtig, einflussreich oder auf andere Weise aufregend waren. Die Gender-Problematik findet sich einfach nicht im Kern dessen, was sie taten. Aus ähnlichen Gründen wird nicht jede wichtige Musikerin analysiert – es fehlt etwa Debbie Harry von Blondie, um nur ein Beispiel zu nennen –, weil wir uns auf Künstlerinnen konzentriert haben, bei deren Songs es sich um besonders aussagekräftige Darstellungen von Gender handelt.
Den Fokus haben wir stark auf Lyrics und Image gelegt. Daneben spielen verbale wie textliche Statements von Musikerinnen und Musikern in Interviews und anderen Printtexten eine Rolle, insofern sie entweder Licht auf ihre Musik werfen oder ihre Einstellung und Weltanschauung offenlegen. Das Buch betrachtet auch die Musik selbst, dabei geht es uns aber nicht um eine musikwissenschaftliche Perspektive oder technische Aspekte (das läge außerhalb unserer Möglichkeiten), sondern darum, wie sich die Musik anfühlt, was für eine Stimmung sie erzeugt. Wir nutzen unsere eigenen körperlichen wie emotionalen Reaktionen als einen Weg, die Sehnsüchte, Aggressionen, Gelüste und Feindseligkeiten innerhalb der Musik zu verstehen. Dabei ist es egal, ob es gerade um The Stooges, U2, Can, Cocteau Twins, The Slits oder Rickie Lee Jones geht.
Wenn es etwas an der Herangehensweise von Sex Revolts gibt, worauf wir immer noch stolz sind, dann, dass wir »männlich« als Gender behandeln statt als neutrale, einfach vorausgesetzte Perspektive. Viele glauben, dass feministische Rockkritik bedeutet, ein Buch über »Frauen in der Rockmusik« zu schreiben. Dass die ersten drei Fünftel von Sex Revolts sich mit männlichen Darstellungen von Maskulinität und Femininität auseinandersetzen, sorgte daher für einige überraschte Gesichter. Das Buch handelt von »Repräsentation« in einem ganz bestimmten Sinne des Wortes: Es geht um Images, Ideen, Stilmittel, Rollen, Gesten und Attitüden, um den Ausdruck von Sehnsucht, Furcht und Ekel. Es handelt nicht von Repräsentation im Sinne von Ungleichheit: Unterschiede, was die Stellung von Frauen in den Machtstrukturen der Musikindustrie angeht oder wie Künstlerinnen in der Musikpresse besprochen werden. Weder verfolgen wir den Kampf von Frauen in einem von Männern dominierten Markt, noch verbringen wir viel Zeit damit, gegen männliches Fehlverhalten und Missbrauch zu protestieren. Solche Geschichten gibt es ohne Ende, manche davon sind schon gut dokumentiert, anderen steht ihr Termin im Gerichtssaal der öffentlichen Meinung noch bevor (Rock und Pop hatten ihr #MeToo noch nicht wirklich). Unser Fokus liegt auf unserem eigentlichen Thema: Ideologie und Affekt – Misogynie und Maskulinismus in den Lyrics (und verschlüsselt im Sound). Das, was im wirklichen Leben passierte, war für uns eher sekundär. Wo immer Macht und Ruhm existieren, gibt es Menschen, die ihre Position ausnutzen, und ein soziales Umfeld, das solches Verhalten nicht nur ermöglicht, sondern auch dabei hilft, es zu verdecken. Ein Blick auf die Geschichte der Unterhaltungsbranche genügt: Nicht selten legen Künstler, deren Werk sanft und romantisch ist, das schlimmste Verhalten an den Tag.
Dennoch hat Sex Revolts – wie jedes Buch – seine blinden (oder tauben) Flecke, die wir heute anders angehen würden. Wir müssten uns dem Thema mit einem umfangreicheren Verständnis von Gender widmen. So breitgefächert, wie das Buch im Bezug auf Musik und künstlerischen Ausdruck auch ist, es beschränkt sich auf heterosexuelle Dynamik. Die Wahrheit ist: Wir fühlten uns nicht in der Lage, die geheime Geschichte von LGBTQ-Strömungen in der Rockgeschichte anzugehen. Diese müssten andere erzählen. 2018 jedoch, in einer Zeit also, in der der Diskurs über Transgeschlechtlichkeit und Gender-Nonkonformität so dringlich erscheint, bräuchte es eine gleichwertige Analyse des erweiterten Spektrums von sexueller Uneindeutigkeit und der Subversion von Identität. Tatsächlich beschäftigen wir uns im mittleren Teil des Buches mit Androgynie als ambivalentem Phänomen innerhalb heterosexueller Maskulinität. Sie ist gleichzeitig progressiv und befreiend, aber auch zügellos und »dekadent«. Heute würden wir uns sicherlich neue Gedanken über die Bedeutung von »Macha«-Tomboy-Persönlichkeiten wie denen von Suzi Quatro und Joan Jett machen, die sich als wegweisender herausgestellt haben, als wir in den frühen 1990ern annahmen.
Ein anderer Aspekt, den wir noch einmal überdenken würden, ist die Art und Weise, wie Sex Revolts sich der allgemeinen feministischen Tendenz anschließt, das Patriarchat zu kritisieren, indem maskulinen Verhaltensweisen ihre Berechtigung abgesprochen wird. So entsteht eine Lücke, in der faktisch fast jeder Ausdruck von Männlichkeit aus diesem oder jenem Grund problematisch wird. Bedeutet das, dass es keine positiven Bilder maskuliner Stärke oder Energie geben kann? Wo in der Geschichte populärer Musik gibt es Bilder von Heroismus und Autorität, die berechtigt und inspirierend sind? Der aktuelle Ausbruch von Misogynie in der politischen Kultur kann nicht nur auf einen antifeministischen Backlash zurückgeführt werden. Er kommt auch aus der Verwirrung, der psychischen Not und Anomie junger Männer, die nicht wissen, wie sie sich innerhalb einer Kultur bewegen sollen, die der Zurschaustellung weiblicher Stärke und Größe (Beyoncé) applaudiert, männliche Heldenbilder aber größtenteils in die entgegengesetzten Welten von Gesetzeshütern und Gesetzlosen verschiebt.
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