Sie wartete auf den geeigneten Moment.
Johanna flog über die Brüstung, stieg jedoch in die Höhe und führte einen Kraftschlag aus. Die Schattenfrau wurde quer durch den Raum katapultiert und krachte in ein Regal auf der zweiten Ebene. Chloe rannte zur Treppe, sprang hinunter, rollte zwischen den Feuerzungen hindurch und kam wieder hoch. Die Feindin erhob sich gerade, als Chloe ausholte und zustieß. Ein Schrei erscholl, als die Klinge das Nebelfeld durchstieß. Ein Schlag traf sie, ließ ihren Körper gegen das nächste in Flammen stehende Regal krachen. Die Schattenfrau zog die Sigilklinge aus ihrer Seite, hielt sie in die Höhe. Mit aufgerissenen Augen starrte Chloe auf das Artefakt, das zerbröselte.
»Ah, und ich habe mich schon gefragt, ob es tatsächlich geschieht.« Das Flüstern drang heiser und bösartig aus dem Nebelfeld hervor. »Herzlichen Glückwunsch, Chloe, du hast die Sigilklinge zerstört. Du kannst stolz auf dich sein.« Die Schattenfrau taumelte. Blut floß aus einer Wunde zu Boden, löste sich jedoch auf, bevor es in die Flammen tropfen konnte. »Wenn du darauf hoffst, mich damit getötet zu haben, muss ich dich enttäuschen. Das Nebelfeld hat den Effekt der Klinge neutralisiert. Verletzt hast du mich, sterben werde ich jedoch an einem anderen Tag.«
Chloe kam in die Höhe. »Wie hast du so schön zu Johanna gesagt: Versprich nichts, was du nicht halten kannst.« Sie richtete den Essenzstab aus. »Potesta Maxima. Ignis Aemulatio.«
Der Schlag warf die Schattenfrau zurück. Sie schwankte. Aus ihrem Nebelfeld züngelten Flammen empor. Ein blutroter Schleier legte sich auf Chloes Blickfeld. Sie zeichnete Symbole, initialisierte Kampfzauber mit Worten und schwang ihren Essenzstab gegen die Feindin. Attacke um Attacke leitete sie ein. Doch die Schattenfrau hielt stand. Sie war geschwächt, zweifellos, aber noch nicht am Ende.
»Ich habe, was ich will.« Die Feindin wehrte einen weiteren Kraftschlag Chloes ab, bewegte sich auf das Portal zu, das in der Ferne schwebte. Wie es auch immer hierhergekommen war, sie würde nicht zulassen, dass das Weib entkam.
»Du kannst mich nicht aufhalten, Chloe.« Die Feindin hielt inne, schaute zwischen herabregnenden Trümmern und Flammen zurück. »Glaub ja nicht, dass du entkommen wirst. Ihr spielt nach meinen Regeln, ob ihr es begreift oder nicht. Am Ende steht euer Tod. Kein einziger Lichtkämpfer wird überleben. Wenn du mit sterbenden Augen in mein wahres Antlitz schaust, wirst du den Schmerz darin erkennen, für den ihr alle verantwortlich seid. Es gibt keinen Unschuldigen unter euch.«
»Du hörst dich gerne reden, oder?« Chloe ballte die Linke so fest zur Faust, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. »Du bringst uns allein durch dein Geschwafel um.«
Die Flammen leckten über die Decke, durchsetzten den Boden. Ein Nimag wäre längst zu Asche verbrannt gewesen, aber zuvor an einer Rauchvergiftung gestorben. Das lodernde Orangerot, der Geruch nach brennendem Holz und das Knistern von Papier erschufen das Bild eines Infernos. Sie standen inmitten der Flammen, Auge in Auge. Für einen kurzen Moment spürte Chloe etwas Vertrautes. Das war unmöglich, doch wie die Schattenfrau dastand, ihre Haltung, ihre Gestik, die Wahl ihrer Worte, glaubte Chloe, sie schon einmal gesehen zu haben. Irgendwann. Irgendwo. Oder zumindest jemanden, der ihr ähnelte. Sie wollte den Gedanken greifen, aber er verschwand.
Ein Bild in einem Buch? Eine alte Aufzeichnung? Sie zerbrach sich den Kopf, doch ihr Geist stellte keine Verbindung mehr her. Die in Nebel getauchte Silhouette war wieder so unbekannt wie zuvor.
Spielt es eine Rolle?
Nach allem, was die Schattenfrau angerichtet hatte, war es Chloe egal, wer sie war. Sie wollte, dass die Feindin für ihre Morde bezahlte. Selbst wenn am Ende eine große Persönlichkeit der Menschheitsgeschichte unter dem Schattenfeld steckte, änderte das gar nichts.
»Leb wohl, Chloe.« Die Feindin wandte sich wieder dem Portal zu, rannte durch die Flammen darauf zu.
Kurz bevor sie es erreichte, schwebte Johanna von oben herab, den Essenzstab auf die Schattenfrau gerichtet. Sie landete auf dem Balkon. »Es ist genug. Leg deine Waffen nieder und auf dich wartet lediglich der Immortalis-Kerker. Kämpfe weiter und ich beende dein zweites Leben hier und jetzt.«
Chloe machte sich dazu bereit, ebenfalls in das Geschehen einzugreifen. Mittlerweile lechzten die Flammen nach der Decke des Raumes. Doch die anderen hatten Sicherungsmaßnahmen ergriffen. Wände und Decke wiesen das Feuer ab. Der gemeinsame Schutz versiegelte das Material. Die meisten Bücher, Folianten und Papyri waren verloren, aber immerhin würde das Castillo heute nicht abbrennen.
»Na, wenn das so ist.« Die Schattenfrau machte einen Schritt zurück, richtete den Essenzstab zu Boden. »Dann werde ich mich wohl ergeben. Hm. Wenn ich es mir recht überlege, tue ich das doch nicht.«
Ein Kraftschlag krachte in den Holzuntergrund des Balkons, der längst völlig instabil geworden war. Die gesamte Umgebung schien mit einem Mal in eine grausame Zeitlupe getaucht. Fliegende Funken, lodernde Flammen, knackendes Holz. Der Rauch wallte auf, als der Boden wegbrach.
Johanna ruderte mit den Armen. Sie wollte einen Zauber weben, kam jedoch nicht mehr dazu. Die Schattenfrau stand einfach nur ruhig da und erwartete den kommenden Sturz. Chloes Gedanken rasten, doch ihr Körper reagierte so zäh, als bewege sie sich in Sirup.
Der Boden war fort.
Als habe jemand die Play-Taste bei einem Video gedrückt, lief alles wieder normal ab. Sie fiel. Flammen schossen an ihr vorbei, Holzsplitter wirbelten durch die Luft, oben wurde zu unten.
Sie fielen hinab in ein orangerotes, tödliches Meer.
Schweißtropfen perlten über ihr Gesicht, das Haar lag schweißverklebt an. Jens Lider flatterten, doch sie reagierte nicht auf Ansprache. Alex prüfte erneut ihren Puls. Er ging schnell, war aber immerhin vorhanden.
»So fängt es an«, sagte Tilda. Sie schob ihn beiseite und drückte Jen einen Stoffbeutel auf die Stirn, aus dem der Geruch von Kräutern emporstieg. »Der Schleier raubt ihr die Kraft. Bald wird sie sterben.«
Alex wollte bei diesen gnadenlosen Worten auffahren. Als er jedoch in Tildas Gesicht blickte, schwieg er. Die rundliche Frau wischte fahrig ihre Hände an einer Schürze ab. Sie wirkte traurig. Für einen Augenblick hatten Jen und er ihr Hoffnung gegeben. Hoffnung auf ein Leben außerhalb der Mauern des verlorenen Castillos, nicht länger in Einsamkeit.
»Du bist der Nächste«, sagte Tilda. »Bereite dich besser darauf vor.«
»Einen Teufel werde ich.« Alex funkelte sie an, nun doch wütend. »Amon hat etwas von einem Artefakt geschrieben. Boah, wenn ich das Wort noch einmal höre. Wo ist es?«
»Oben.«
»Wo.Oben.Ist.Es?« Seine Geduld wurde wirklich auf eine harte Probe gestellt.
»Amon wollte es an der höchsten Stelle des Castillos errichten. Daher wählte er den zentralen Turm.«
Er beugte sich über Jen. »Halte durch, okay.« Ganz leise flüsterte er ihr ins Ohr. »Backen. Mein Lieblingshobby ist Backen.« Alex ging zur Tür.
»Ich passe auf sie auf«, rief Tilda ihm nach. »Viel Glück.«
»Danke.«
Er verließ die Küche. Stille lag über allem, als er durch die Gänge des verlassenen Gebäudes schritt. Wieder bekam er eine Gänsehaut. Die Vorstellung, dass hier vor vielen Jahren Lichtkämpfer geschäftig herumgeeilt waren, während der Tod sich ihnen lautlos genähert hatte, ließ ihn erschaudern. Er ging um eine Kurve und stolperte prompt. Im nächsten Augenblick fand er sich Auge in Auge mit einem Skelett wieder, das am Absatz der Treppenstufen lag.
»Ich bin verdammt noch mal der Neuerweckte«, fluchte er. »Warum hat das Ding nicht mein Sigil angezapft und Jen das Problem lösen lassen?« Er stand auf.
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