»Ich weiß, hat Chloe mich auch schon gefragt.« Chris stieß ein regelrechtes Knurren aus. »Einer der Ordnungstrottel hat ihn nicht hinein gelassen, also wollte er Johanna bitten, das zu klären. Er hat sie aber nicht gefunden. Als er zurückkam war schon alles vorbei.«
»Heute scheint ja wirklich alles schief zu gehen.« Clara schob den Gedanken beiseite. Ihr kam eine Idee. Sie richtete den Aufrufzauber nicht auf Werke zum Thema Wechselbälger, sondern auf spezielle Fähigkeiten bei bösartigen Kreaturen. In der Ferne erklang ein Rauschen. Vier Folianten schwebten herbei. Sie gab jenen auf ihrem Tisch den Befehl, zurück ins Regal zu fliegen und Platz für die Neuankömmlinge zu machen, die kurz darauf landeten. In den ersten beiden Werken fand sie nichts. Sie schlug das dritte auf. Es war alt und zerfleddert, die Seiten waren in brüchige Pappe gebunden. Geschrieben worden war es sogar erst 1980. Allerdings besaß der Verfasser scheinbar Zugriff auf ältere Quellen. Sie musste die Zeilen zweimal lesen, bis der Gedanke endlich bei ihr angekommen war. Sie schloss das Buch. Ihre Hände zitterten.
»Chris!«, rief sie. »Ich habe es! Du wirst es nicht glauben.«
Stille.
»Chris!«
Hinter ihr erklangen Schritte. Sie fuhr herum. Doch es war nicht Chris, der vor ihr stand. Es war ein anderer Freund. Zumindest dachte sie das, bis sie das Blut auf seiner Stirn sah. Es stammte nicht von ihm, wie ihr klar wurde, als er es böse grinsend wegwischte und vom Finger leckte. »Die gute Chloe war ein harter Brocken.«
»Max«, hauchte Clara. Sie schluckte. »Oder sollte ich eher Wechselbalg sagen.«
Sie streckte die Hand aus.
Die Kreatur hob den Essenzstab von Max in die Höhe. »Das lässt du schön bleiben. Glaub mir, ein gezielter maximaler Kraftschlag zwischen die Augen hat den gleichen Effekt wie eine Kugel.«
Sie zog ihre Hand zurück. »Du hast ihn also ersetzt. Max. Seit Wochen.«
»Aber ja.« Die Kreatur kicherte. »Und es war absolut simpel.«
Ich muss Zeit gewinnen. Es konnte den anderen nicht verborgen bleiben, was hier geschah. Auch die Bibliothek war mit Überwachern ausgestattet und Chris flitzte zwischen den Regalen herum. »Warum ausgerechnet er?«
»Die Kaugummis.« Die Kreatur brach in höhnisches Gelächter aus. »Ich konnte sein Blut in die Masse einfügen und so wurden meine Gedanken stets zu seinen Gedanken, wenn ich eines davon gekaut habe.«
Es waren jene Momente, in denen sie sich fragte, wie sie nur alle mit Blindheit hatten geschlagen sein können. Wieso war ihnen nie der Gedanke gekommen, nach dem Blut zu suchen, das die alten Kreaturen benötigten, um den eigenen Geist zu verändern.
»Chloe war nahe dran«, erklärte ihr Gegenüber siegessicher. »Sie hat die Globen aktiviert. Zwar haben die nur mich gezeigt – Max ist sicher verwahrt –, aber als sie zeitlich zurückging, konnte sie meinen Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der Attacke auf Leonardo vergleichen. Sie ist schon gewitzt. Entschuldigung, sie war gewitzt. Noch ein paar letzte Worte, bevor ich dich erledige und das Archiv aufsuche?« Er hob Leonardos Armband in die Höhe. »Der Zugang liegt frei.«
Einen Augenblick starrte Clara auf den kobaltblauen Stein. Dann begann sie zu lachen.
Die Kreatur schaute sie verblüfft an. »Bist du nun verrückt geworden?«
»Oh, du dummes Ding«, sagte sie. »Du hast doch nicht geglaubt, dass sie dich das tun lässt?«
»Was …?«
»Die Schattenfrau hat dich hier aufgrund deiner zweiten Fähigkeit eingeschleust, nicht wegen der perfekten Imitation, zu der du fähig bist.« Sie deutete auf den Folianten, wohl wissend, dass die Uhr tickte. Wo blieben die anderen? »Die alten Wechselbälger – und du bist einer davon, das wissen wir mittlerweile – konnten auch in ein Portal verwandelt werden. Das war ihr Tod, doch damit gewährten sie Schattenkriegern Zutritt zu Einrichtungen der Lichtkämpfer. Deshalb war es den Kämpfern von damals so wichtig, euch auszurotten. Die Schattenfrau will nicht, dass du in das Archiv vordringst. Das will sie selbst tun.«
Der Wechselbalg schaute unsicher drein. Gerade öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, da begann die Rücktransformation. Max’ Gesicht verschwand, der Körper nahm die ursprüngliche Form an. Graue, ledrige Haut, spitze Ohren, messerscharfe Zähne. Sie konnte auf dem Gesicht der Kreatur erkennen, dass das nicht von ihr gewollt war. Der Wechselbalg ließ die Armmanschette fallen. Ein Schrei hallte durch die Bibliothek, wie sie noch nie einen ähnlichen gehört hatte, als das Wesen plötzlich in loderndem schwarzen Feuer stand. Es schmolz zusammen, veränderte sich, ein Wirbel entstand.
»Ein Schattenportal«, flüsterte Clara.
Sie riss ihren Essenzstab an sich. Mit einem Aufrufzauber holte sie Leonardos Armmanschette heran. Gleichzeitig griff sie nach ihrem Kontaktstein, um eine Warnung auszusenden. Es war nicht schwer zu erraten, was gleich geschehen würde.
Sie behielt recht.
Ein Fuß, eingehüllt von einem dunklen Nebelfeld, trat aus dem Portal. Der Rest folgte kurz darauf. Sie standen sich gegenüber, Auge in Auge.
»Ah, home sweet home.« Die Stimme der Schattenfrau drang nur gedämpft und verzerrt unter dem verhüllenden Feld hervor. Ihr Antlitz, selbst der Essenzstab, blieben vollständig verborgen.
Clara hob den Stab.
»An mir kommst du nicht vorbei!«
17. Ein Plan in einem Plan
Johanna betrat mit gezücktem Essenzstab die Bibliothek.
Hoch über ihr, auf dem Balkon der zweiten Leseebene, stand Clara. Aus einem in schwarzen Flammen stehenden Portal ihr gegenüber trat die Schattenfrau.
»Nein«, erklang hinter ihr Kevins Stimme. »Das ist unmöglich. Das Bild … Max.«
Sie wandte sich dem jungen Lichtkämpfer zu. »Ich übernehme das hier. Eliot trommelt bereits alle Ordnungsmagier zusammen. Tomoe trifft gleich ein und Albert aktiviert Sicherungsmaßnahmen. Du musst den echten Max finden.«
»Aber wie?«
»Er ist im Castillo. Wenn der Wechselbalg das alles geplant hat, schwebt er in Lebensgefahr. Erkläre Einstein, was hier vorgefallen ist. Da wir nun wissen wer ersetzt wurde, gibt es Möglichkeiten das Original zu finden. Geh!«
Kevin rannte davon.
Johanna lief ihrerseits auf die metallene Wendeltreppe zu. Augenblicke später stand sie dem Nebelfeld gegenüber.
»Dein Einfallsreichtum ist beeindruckend.« Sie ließ ihren Essenzstab keinen Zentimeter sinken.
»Oh, aber das ist noch gar nichts.« Ihre Feindin wirkte Magie. Eine düstere, kranke Spur entstand.
Der kobaltblaue Permitstein sauste mit der Armmanschette in ihre Hand, während Clara von einem Schlag getroffen über die Brüstung fiel. Johanna konnte es nicht mehr verhindern. Wenige Schritte brachten sie zum Geländer. Tief unter ihr war Clara aufgekommen, hievte sich soeben ächzend in die Höhe.
»So soll es von nun an also sein.« Sie wandte sich ganz der Feindin zu. »Geschmiedete Ränke, tote Lichtkämpfer – und das alles im Zeichen eines geheimen Plans.«
»Das hast du ganz richtig erkannt«, bestätigte die Schattenfrau. Sie ging langsam über den Balkon, ihre Hüften wogten hin und her. »Es ist so lange her, dass ich hier war.« Ihre Finger strichen über die Oberfläche der Buchrücken, die im äußersten Regal standen.
»Du warst hier?«, fragte Johanna. Sie wollte angreifen, doch gleichzeitig brannte die Neugier in ihr wie ein alles verzehrendes Feuer. Seit Jahrhunderten warf die Schattenfrau ihnen Knüppel zwischen die Beine. »Wer bist du?«
»Keine Angst, das werdet ihr bald erfahren«, erwiderte die Feindin. »Aber ich mache nicht den Fehler, meine Pläne zu offenbaren, damit ihr mich in letzter Sekunde schlagen könnt. Nimm zum Beispiel das hier.« Sie hob das Kobaltpermit in die Höhe. »Ihr alle glaubt zu wissen, wozu ich es benötige.«
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