In der Ferne krachte ein weiteres Regal zusammen.
Johanna kämpfte sich durch die Trümmer zur Tür. Sie griff nach ihrem Kontaktstein. »Albert, Tomoe.«
»Johanna?«, erklang die lautlose Stimme ihres Freundes. »Was ist passiert? Bist du in Ordnung?«
»Auf dem Weg in Richtung Tür«, sagte sie. »Evakuiert den Raum. Sie ist fort.«
Als sie den Ausgang endlich erreichte, waren die anderen beiden Unsterblichen bereits da.
Tomoe betrachtete sie von oben bis unten. »Du scheinst nicht verletzt zu sein.«
»Nur mein Stolz«, erwiderte sie. »Das Feuer hat keine Quelle mehr, die Ordnungsmagier müssen es löschen. Theresa kümmert sich um alle Verletzten. Albert, wir brauchen die anderen Ratsmitglieder und Lichtkämpfer.«
Johanna ließ alle Zauber verwehen und hob das Siegel um das Castillo auf. Schwer atmend sank sie an der Wand zu Boden. Der Stein verströmte angenehme Kühle.
»Sie hat uns hereingelegt«, fluchte Einstein, während er nach seinem Kontaktstein griff. Kurz darauf fiel das Siegel, das alles hermetisch abgeriegelt hatte.
»Und nicht zu knapp.« Johanna keuchte. Ihre Kondition war nicht die beste, sie hielt sich zu oft hier im Castillo auf. »Das Archiv versiegeln. Eine derartige Idee muss man erst mal haben.«
»Brillant«, gestand Tomoe zähneknirschend. »Damit schneidet sie uns von jedem Wissen ab; von allen älteren Aufzeichnungen. Meinst du, die Archivarin kann das Siegel von innen brechen?«
Johanna wiegte den Kopf in einer Geste der Unsicherheit hin und her. »Bisher haben sich die Angriffe der Schattenfrau als ziemlich wirksam entpuppt. Sie wird es zweifellos versuchen, aber wir müssen hier draußen auch alles daran setzen. Mit der vereinten Kraft des Rates wird es gelingen, da bin ich voller Hoffnung.«
Albert trat zu ihnen. »Eliot koordiniert seine Männer. Sie werden das Feuer in den Griff bekommen, aber es ist hartnäckig. Die Bibliothek ist verloren. Wir müssen alles neu aufbauen. Die Schriften sind natürlich verbrannt.«
Johanna schloss die Augen. Es war eine Sache, dass sie nicht mehr an eingelagertes Wissen herankamen, bis das Siegel der Schattenfrau aufgehoben war. Doch hier waren Unikate zerstört worden. Es gab keinen Ersatz. Einige dieser Werke hatte sie selbst zusammengetragen. »Es ist, wie es ist. Wir werden neues Wissen finden. Es gibt genug vergessene Schriften auf der Welt, geheime Bibliotheken und Katakomben. Wir werden Buch für Buch bergen. Außerdem werden die Archivare gewiss die eine oder andere Abschrift besitzen.«
»Falls sie noch am Leben sind«, sagte Tomoe. Die Freundin wirkte selbst mit zerzaustem Haar und rußgeschwärztem Gesicht elegant. »Tut mir leid, aber jemand muss es aussprechen. Zum einen wissen wir nicht, welche Wirkung das Siegel auf das Innere des Archivs hat. Zum anderen tickt die Uhr. Auch die Archivarin und die ihr Unterstellten sind Menschen. Ohne Nahrung und Wasser werden sie sterben. Wir müssen diese Barriere zügig überwinden.«
»Da stimme ich dir zu.« Johanna sog die klare reine Luft tief in ihre Lungen. »Doch zuerst müssen alle darüber informiert werden, was hier heute geschehen ist.«
»Du willst es ihnen sagen?«, fragte Tomoe ungläubig. »Alles?«
»Natürlich. Wenn die vergangenen Ereignisse eines gezeigt haben, dann, dass unsere Feindin jedes Mittel gegen uns einsetzt. Sie sät Zwietracht und Angst. Keine Geheimnisse mehr. Die Lichtkämpfer erfahren, was hier heute geschehen ist. Nur so können wir verhindern, dass sich etwas Derartiges wiederholt.«
Tomoe wirkte skeptisch. »Wenn du das für den richtigen Weg hältst, werde ich mich nicht dagegenstellen. Allerdings glaube ich eher, dass das für Unsicherheit und noch mehr Angst sorgen wird.«
Albert schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Johanna hat recht. Es wird das Vertrauen stärken, das die Lichtkämpfer in uns setzen.«
Bevor Tomoe darauf etwas erwidern konnte, hob Johanna die Hand. »Diese Diskussion sollten wir später fortsetzen. Es gibt genug zu tun. Die Teams müssen neu zugeteilt werden. Es gilt herauszufinden, wie der Wechselbalg hereinkam, und das Siegel um das Archiv muss schnell fallen. Zudem …«
Sie taumelte.
Im gleichen Augenblick spürten es auch Tomoe, Einstein und alle anderen versammelten Lichtkämpfer. Wie ein schlafender Drache, der sich brüllend erhob, wogte das Gefühl über sie alle hinweg. Schmerz, Übelkeit, noch mehr Schmerz. Vor ihrem geistigen Auge entstand ein Bild. Ein Mann, abgekämpft, verwundet, am Ende all seiner Kräfte.
»Max«, hauchte Albert.
»Oh nein.« Tomoe erbleichte.
Johanna konnte nur zitternd dastehen. Machtlos musste sie dem Verhängnis zusehen. Schließlich flüsterte sie: »Aurafeuer.«
Kurz zuvor
Kevin rannte durch die Gänge des Castillos. Wo Lichtkämpfer zu langsam beiseite wichen, sandte er leichte Kraftschläge aus, die sie wegrempelten. Er nahm nicht die Treppen, sprang stattdessen über die Brüstung und schwebte über den Abgrund, um ein Stockwerk tiefer wieder auf dem Boden aufzukommen. Lichtkämpfer, die seinem grimmigen Blick begegneten, warfen sich zur Seite. Vermutlich glaubten sie, er sei der Verräter. Manche zückten den Essenzstab, griffen ihn aber nicht an.
Max' Kontaktstein lag pulsierend in seiner Hand. Er lebte also noch. Es musste so sein. Der Gedanke brachte andere Bilder mit sich. Wochenlang hatte die Kreatur den Körper seines Freundes nachgebildet, ihn ersetzt. Er hatte das Drecksding geküsst, umarmt, sich nahe gefühlt und … Nein, darüber wollte, darüber durfte er nicht nachdenken.
Nun ging es nur um eines. Max' Rettung …
… Die erste Flamme züngelte über seine Aura. Das Sigil streckte seine Tentakel aus, bohrte sie in den hauchdünnen Schutz. Immer weiter trieb Max seine Magie an, ließ die Leuchtkugeln entflammen. Sie strahlten wie kleine Miniatursonnen, vertrieben die Dunkelheit mit ihrem Licht. Er schämte sich nicht der Tränen, die über seine Wangen rannen. Obgleich sein Körper geschunden war, er ein Martyrium über sich hatte ergehen lassen müssen und seine Freunde davon nicht einmal etwas wussten, hing er doch am Leben. Der Gedanke brachte erneut Wut mit sich. Er durfte ihr nicht nachgeben. Wut sorgte für Kampfeswillen.
Es ist vorbei.
Ab einem bestimmten Punkt ging es schnell. Die Flammen würden ihn innerhalb von Augenblicken verzehren. Der Schmerz würde nur Sekunden andauern. Nichts im Vergleich zu dem, was hinter ihm lag. Er dachte an seine Familie und Freunde. An Kevin, Jen und Chris, Chloe, Clara und Mark. Er dachte an die vielen Stunden im Wohlfühlflügel, wo er mit anderen gelacht hatte, neue Getränke ausprobiert oder magische Experimente durchgeführt hatte.
Es ist vorbei!
Er peitschte das Sigil an, trieb es über die Belastungsgrenze hinaus.
Eine weitere Flamme entstand. Noch eine. Das Aurafeuer begann. Und sein Schmerz …
… schwappte über Kevin hinweg. Er taumelte, brach in die Knie. Übelkeit, das grausame Gefühl des Verlustes brannte sich in seine Seele. Vor seinem geistigen Auge erschien Max. Er stand in einem kleinen Raum. An der Decke schwebten leuchtende Kugeln, die die Dunkelheit vertrieben. Er keuchte schockiert auf, als er den Zustand bemerkte, in dem sein Freund sich befand. Wunden, Verstümmelungen, Blut. Die Haare hingen strähnig herab, ein Vollbart spross auf seinem Gesicht.
Der Schock wurde von unbändiger Wut abgelöst. Auf den Wechselbalg, die Schattenfrau und sich selbst. Warum habe ich es nicht gesehen? Er sprang auf, kämpfte das Gefühl nieder und rannte weiter. Vor ihm tauchte ihr Zimmer auf.
Ein zusätzlicher Schock. Während er wochenlang mit dem Wechselbalg im Bett gelegen und geschlafen hatte, hatte Max nur eine Wand entfernt in Ketten einsam gelitten. Aus dem Zorn in seinem Inneren wurde purer Hass. Das Gefühl der Machtlosigkeit schürte die Flamme. Kevin betrat den Raum, den er nie wieder als sein Zuhause ansehen würde. Im nächsten Augenblick …
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