Roses Blick wurde unscharf. Nicht jetzt! Nicht weinen! Mit einer schnellen Bewegung wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen. Ihre Stimme zitterte, als sie antwortete: „Niemand wird sterben? Was sind wir neun gegen all die anderen, die wir verraten würden? Ihr werdet trotzdem töten. Ganz egal, wen, aber ihr tötet die Falschen!“
Mit einem Schnaufen entfernte sich Mason von ihr, öffnete ein Fenster und drehte sich ein letztes Mal zu ihr um. „Dann verantworte alles, was nun folgen wird. Und bevor wir dich töten, wirst du dabei zusehen, wie Sephora durch meine Magie ihr Leben endgültig aushaucht. Das verspreche ich!“
Ein Raunen ging durch die Reihen der Frauen. Nalar lächelte zufrieden und machte sich durch ein Räuspern bemerkbar. „Du hast also entschieden, dass eine von ihnen sterben wird?“ Selbstgefällig deutete er mit seinem Schwert über die Köpfe der Schwestern hinweg.
Rose war kaum fähig zu atmen, ihre Stimme inzwischen brüchig: „Ich habe entschieden, dass ich der Lichtseite treu bleibe. Was Ihr daraus macht, ist einzig und allein Eure Wahl.“
Eine der Schwestern hob ihren Kopf und sprach mit deutlich festerer Stimme als Rose: „Es ist egal. Du wirst dich nicht der Finsternis beugen. Ich stehe zu dir. Dann soll er mich auch töten.“ Ihren Rücken noch ein wenig mehr durchstreckend fügte sie hinzu: „Für Sephora!“ Eine nach der anderen Schwester richtete sich auf. Zwar knieten sie nach wie vor am Boden, jedoch in ehrbarer Haltung. Bei jedem Aufrichten murmelte die Betreffende: „Für Sephora!“
Eine winzige Lichtkugel schoss an Masons Gesicht vorbei in den Saal hinein. Alle konnten sie sehen - alle bis auf Alma, die noch immer zusammengekauert am Boden kniete. Ganz gezielt flog die Kugel direkt zu ihr und schmiegte sich einen winzigen Moment an sie. Dann schwebte sie genau in die Mitte des Raumes.
Nalar richtete seine Hände zornig auf den leuchtenden Ball. Dunkle Schwaden schossen direkt in das Leuchtobjekt hinein. Die Kugel stand einfach in der Luft, zitterte kurz, begann zu flackern, bevor sie ein letztes Mal hell aufleuchtete, zu Boden sank und dort verglühte. Übrig blieb ein schwarzer Schatten, der wenige Sekunden später ebenfalls verschwand.
Alle Anwesenden starrten auf die Stelle am Fußboden. Niemand bemerkte die kleine zierliche Alma, die sich langsam auf ihre Füße rappelte, bis sie aufrecht stand. Sie musste all ihren Mut zusammennehmen, ihr Atem ging schwer. Trotzdem schaffte sie es, laut und klar zu sprechen: „Für Charlotte und Sephora!“
Mit einem bestialischen Schrei drehte sich der dunkle König mit erhobenem Schwert zu ihr herum und schlug mit immenser Wucht zu. Almas Kopf flog im hohen Bogen durch den Raum, bis er mit einem dumpfen Geräusch aufschlug. Das Blut spritzte an die Kleidung der verbleibenden Schwestern. Eine Blutspur nach sich ziehend, rollte er durch den Raum. Vor Roses Füßen kam der Kopf zum Liegen. Die leblosen Augen ihrer Schwester starrten zu ihr hoch. Rose schloss die Lider, Tränen liefen ihr über das Gesicht. Die anderen Frauen taten es ihr gleich.
„Das war Nummer eins. Du hast Zeit bis morgen Mittag, Rose. Sonst ist die Nächste deiner Schwestern dran.“ Nalars Gesicht verzog sich zu einer Fratze, er machte eine Handbewegung.
Die Masamas zerrten die Frauen brutal aus dem Raum.
Bevor Nalar zu seinem Sohn ans Fenster ging, gab er den verbliebenen Wachen im Raum den Befehl: „Räumt den Körper weg. Den Kopf spießt auf und postiert ihn so vor die Kerkerräume, dass alle ihn sehen können. Lasst sie das Antlitz ihrer Schwester nicht vergessen.“
Der leere Wunsch, die Zeit zwischen dem Begehren und dem
Erwerben des Begehrten vernichten zu können, ist Sehnsucht.
Immanuel Kant
Mathis saß mit einem der Bücher aus Sephoras Bibliothek in der Ecke. Auch wenn Benedicta und Sephora die Distanz, die er hielt, nicht gefiel, ließen sie ihn vorerst in Ruhe.
Benedicta sah verträumt aus dem Fenster, als Sephora plötzlich aufschrie und sich krümmte. Beide Kinder sprangen auf und eilten zu ihr.
„Was hast du?“ Benedicta schien ehrlich besorgt. Mathis Stirn lag in Falten. Sie tauschten einen ratlosen Blick aus. Der Lichtstrudel, der noch immer in den Himmel schoss, kreischte auf, so dass sie zusammenfuhren. Mathis hielt sich die Ohren zu, auch wenn es kaum etwas nutzte. Sephora glitt, von Benedicta gestützt, langsam auf den Boden. Mathis Augen hingen am Licht, das bebte, sich abrupt verdunkelte und zusammenbrach. Zeitgleich kehrte völlige Stille im Raum ein und er nahm seine Hände langsam und fassungslos von den Ohren.
Sephora stöhnte leise, setzte sich jedoch auf.
„Was ist passiert? Geht es dir wieder etwas besser?“, fragte Benedicta erneut nach.
„Ja, mein Kind. Es geht gleich wieder. Gib mir nur einen Moment!“ Fahrig fuhr sich die alte Frau durch die Haare und sah in diesem Moment so steinalt aus, wie sie tatsächlich war.
„Was ist mit dem Licht?“ Mathis starrte noch immer auf das stumme und glanzlose Becken.
„Gebt auch ihnen einen Augenblick. Sie müssen sich erholen. Ein Späher ist dem dunklen König und Mason zum Opfer gefallen. Wir können das spüren. Es kann uns zwar nichts anhaben, aber der Schmerz fließt durch uns hindurch. Es war grauenvoll. Glücklicherweise ging es sehr schnell.“ Kaum hatte Sephora geendet, kehrte der Glanz in das Becken zurück und der Strudel aus Licht schnellte erneut in den Himmel. Auch sie selbst richtete sich wieder auf.
„Warum tust du das?“ Mit Tränen in den Augen sprang Mathis auf.
„Was? Mathis, was meinst du?“ Sephora strich ihr Kleid glatt.
„Warum sagst du so etwas über meinen Vater. Du warst nicht dabei und kannst es nicht wissen.“ Seine Stimme überschlug sich beinahe.
Benedicta legte ihm eine Hand auf den Arm, er schüttelte sie jedoch sofort wieder ab und trat einen Schritt zurück. „Er ist nicht böse!“
„Mason hat sich entschieden, Mathis. Das musst du akzeptieren, auch wenn ich deinen Schmerz verstehe.“ Sephora seufzte.
„Das kannst du nicht! Du hast eine falsche Meinung von ihm. Du kennst ihn gar nicht!“ Mathis schrie die beiden Frauen an. „Niemand von euch weiß, was er vorhat. Vielleicht ist es ein Trick? Warum reden wir nicht mit ihm und bringen es in Erfahrung?“
Sephora schüttelte den Kopf und wollte ihm erneut erklären, wieso sie so sicher war. Doch Mathis hatte sich, genau wie am Vortag schon, umgedreht und war aus dem Raum gelaufen.
In seinem Zimmer angekommen, zerrte er eine rucksackähnliche Tasche hervor, in die er eilig seine wenigen Sachen stopfte. Tränen liefen ihm die Wange hinunter. Er schaffte es gerade, den Sack unter seinem Bett zu verstecken, bevor sich die Tür leise öffnete und Benedicta ihren gemeinsamen Raum betrat.
„Mathis! Ich finde nicht, dass du so mit Sephora reden kannst. Sie will dich doch nur beschützen und ist ehrlich zu dir. Sie hätte es dir auch verschweigen können.“ Sie versuchte gar nicht, zu ihm zu gehen, sondern blieb an der Tür stehen.
Mathis war noch immer wütend und konnte sich nicht beherrschen. „Sie versucht aber auch nicht, mich zu verstehen. Sie hat meinen Vater abgeschrieben, genau, wie sie es mit meiner Mutter getan hat.“
Erschrocken schüttelte Benedicta den Kopf.
Doch Mathis fuhr unbeirrt weiter. „Doch. Sie hat genau gewusst, was Mama tun würde und hat sie nicht beschützt. Mir wäre nichts passiert. Ich weiß, dass mein Vater mich liebt. Er hat es mir mehr als einmal gezeigt.“
„Mathis, nein!“ Benedicta fiel ihm einfach ins Wort.
Mathis Miene versteinerte. „Wenn du so denkst, dann geh. Ich will dich hier nicht mehr haben. Schlaf woanders. Dies ist mein Zimmer. Du hast hier nichts verloren.“
Der eisige Klang seiner Worte fuhr Benedicta bis in die Knochen und erschreckte sie. „Mathis ...“, setzte sie an.
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