Die Frau ließ das Handtuch sinken und sah ihn an.
„Ich bin kein Primat“, verkündete sie.
„Das ist korrekt“, bestätigte der Schimpanse geduldig. „Primaten können klettern, sind sehr stark und dabei kein bisschen nackt oder hilflos.“
„Ich … ich bin ein … ein Mensch “, verkündete die Frau zögernd, als wäre sie erst in diesem Moment zu dieser wichtigen Einsicht gelangt.
Der Affe rollte die Augen.
„Wie schön, dass deine Erinnerungen zurückkehren. Aber glaube mir, diese Kategorien haben hier nicht die geringste Bedeutung.“
„Warum?“, fragte die Frau erneut.
Der Affe holte tief Luft.
„Weil es in diesem Wald nur Pflanzen gibt.“
„Es gibt“, fragte die Frau, „außer uns keine Tiere?“
„Nein, es gibt überhaupt kein tierisches Leben.“
„Aber“, erwiderte sie verwirrt, „ich bin keine Pflanze.“
Der Affe schwieg.
„Ich … ich bin von Menschen geboren worden“, erklärte sie, aber ihre Stimme klang zögernd.
„Und wo“, fragte der Affe leise in einem milden Tonfall, während er auf die Brocken von Fruchtfleisch zu Füßen der Frau blickte, „bist du gewachsen?“
Sie runzelte die Stirn.
„Im … im Bauch meiner Mutter?“
„Und?“, fragte der Affe sehr langsam. „Wie hat sie dich ernährt?“
„Na, über die Nabelschnur, die …“, sie verstummte. Sie ließ das Handtuch sinken und ihr Blick fiel auf ihren Bauch, wo ganz offensichtlich nichts zu sehen war. Vorsichtig strich sie mit den Fingern über die vollkommen glatte Haut, dann sah sie zu dem Affen auf und Angst lag in ihrem Blick.
„Höflich wie ich bin“, kommentierte der Affe trocken, „weise ich mal nicht allzu deutlich darauf hin, dass es bei uns beiden weiter unten nicht besser wird.“
Die Frau sah wieder an sich hinab und blickte stumm auf die Stelle zwischen ihren Beinen, wo ebenfalls nur glatte Haut zu sehen war.
„Aber … aber …“, stotterte sie. „Ich bin ein Mensch. Ein Mensch !“
Der Affe seufzte leise und griff nach der stacheligen Frucht, von der er eben noch gegessen hatte. Er erhob sich auf die Hinterbeine und schritt langsam und ungelenk zu ihr hinüber, während sie weiterhin fassungslos ihren Körper anstarrte. Vorsichtig, fast zärtlich, nahm er ihre freie Hand.
„Es tut mir leid“, erklärte er, „aber meiner Erfahrung nach ist es am besten, wenn man sich diesen Dingen möglichst frühzeitig stellt.“
Mit diesen Worten hob er ihre Hand und stach ihr mit einer der spitzen, roten Dornen in den Daumen.
„Au!“, rief die Frau und riss sich los. „Warum? Das tut weh! Warum ? Was soll …“
Sie verstummte und beobachtete mit aufgerissenen Augen den großen Tropfen dicker, grüner Flüssigkeit, der aus ihrem Daumen quoll.
Der Affe hob seine eigene Hand und stach sich fast beiläufig ebenfalls in den Daumen. Wortlos hielt er ihn vor ihr Gesicht. Der gleiche Tropfen grüner Flüssigkeit quoll aus seiner Wunde heraus.
„Willkommen in der Familie“, verkündete er und lächelte schief.
Die Frau blickte stumm von seinem Daumen zu ihrem, sah dem Affen schließlich ins Gesicht und begann zu zittern. Tränen liefen ihr über die Wangen. Mit einem erstickten Schluchzen hockte sie sich auf den Boden, presste das Handtuch vor ihr Gesicht und begann herzzerreißend zu weinen.
Der Affe trat einen Schritt zurück, sah auf die Frau herab und rollte die Augen.
„Okay“, murmelte er, „das hätte besser laufen können.“
Er setzte sich vorsichtig neben sie und legte ihr zögernd und unbeholfen die Hand auf den Rücken. Dabei gab er ein leises Gemurmel von sich, von dem er hoffte, dass es beruhigend klang. So verharrte er, bis das Schluchzen langsam verklang und die Frau verstummte. Lange hockte sie regungslos neben ihm, bis schließlich ihre gedämpfte Stimme durch das Handtuch drang.
„Ich verstehe diesen Ort nicht. Er ist so fremdartig. Es ist wie ein schlechter Traum. Ich sehe laufend seltsame Dinge und ständig kommen neue Bilder dazu, aber nichts davon ergibt Sinn. Ich erinnere mich nicht einmal an meinen Namen. An meinen eigenen Namen .“
Sie hob den Blick und sah den Affen an. Er sah ihre beiden leuchtend grünen Augen direkt vor sich und spürte Panik in sich aufsteigen.
„Weißt du vielleicht meinen Namen?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Oje , dachte er und sah hektisch umher, auf der Suche nach einer Antwort.
Name …, Name …, Name …, dachte er hektisch.
Durch eine Lücke im Blättervorhang konnte er auf den Weg hinaussehen. Von einem der höheren Astpfade hingen dichte Vorhänge aus Blumen herab. Riesige trichterartige Blüten in Gelb und Rosa.
Ach was soll‘s .
„Lilien?“, fragte er.
Die junge Frau blinzelte.
„Lilien, Lil … Lilian …“
Sie schien den Namen vorsichtig zu kosten. Dann lächelte sie zum ersten Mal. Dem Affen wurde flau im Magen.
„ Lilian!“, rief sie. „ Ja, das funktioniert.“
„Wie schön“, krächzte der Schimpanse erstickt.
Sie sah ihn nachdenklich an.
„Hast du auch einen Namen?“, fragte sie.
Der Affe schüttelte nur stumm den Kopf.
Sie betrachtete ihn eine Weile, dann lächelte sie wieder.
„Du lässt mich nie aus den Augen und schaust mich immer so neugierig an. Ich glaube, ich nenne dich George .“
„ George !“, rief der Affe entgeistert. „Was ist denn das für ein Name? Wie kommst du denn jetzt auf George ?“
Lilian lächelte entschuldigend.
„Ich weiß es nicht.“
Der Affe musterte sie entsetzt, dann schüttelte er erneut den Kopf und erklärte schwach: „Du solltest dich abtrocknen, wir müssen aufbrechen. Der Weg ist lang.“
Lilian nickte und erhob sich. Mit schnellen Bewegungen trocknete sie sich ab und warf George wortlos das Handtuch zu. Sie ging zu der zweiten Schote hinüber, hob sie vom Boden auf und betrachtete sie eine Weile lang aufmerksam. Schließlich nahm sie die Frucht und rollte sie mit festen Bewegungen einige Male zwischen ihren flachen Händen. Es knackte und knisterte. Danach griff sie die Schote am hinteren Ende und schlug sie zweimal fest in ihre freie Hand. Die Handtuchrolle rutschte mit einem Plopp auf ihre leere Hand. Sie schüttelte das große Handtuch aus, wickelte es sich mit einer eleganten Bewegung um den Körper und faltete den oberen Rand zu einem provisorischen Kleid. Nachdem sie einen Moment lang kritisch darauf hinabgesehen hatte, drehte sie sich probeweise einmal und lächelte den Affen an, der sie mit offenem Mund anstarrte.
„Ich bin soweit“, verkündete sie.
Die kleine, grüne Graskugel schwirrte um Lilians Kopf herum und gab helle, trillernde Töne von sich. Nach einer weiteren Umrundung setzte sie sich auf den Kopf der Frau und faltete die beiden großen, roten Flügel auf dem Rücken zusammen. Sie sahen aus, als wären sie aus zahllosen winzigen Blütenblättern zusammengesetzt. Das kleine Wesen rollte einen langen, dünnen Rüssel aus seinem Blütengesicht und tupfte Lilian damit von oben auf die Nase. Die Frau lachte und verscheuchte den aufdringlichen Gast von seinem Rastplatz. Der kleine Flatterball hob mit einem Fiepen ab, flog einige Meter voraus und begann sich trillernd im Kreis zu drehen.
„Ich kann nicht glauben“, lachte Lilian, „dass das wirklich alles Pflanzen sind.“
„Und ich kann nicht glauben“, murrte der Affe, während er auf allen vieren vorausging, „dass eine ganze Gattung derart nutzlos und aufdringlich sein kann.“
„Gibt es denn verschiedene Arten von diesen fliegenden Blumen?“, fragte Lilian und winkte dem Grasball zu, der begeistert Loopings schlug.
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