Ein fürchterlicher Gestank ist meine erste Wahrnehmung. Nach Fäulnis riecht es hier, nach Verwesung, säuerlich und scharf. Ich schaue in die dunkle Kammer; nirgends ein totes Tier oder faulende Felle von geschlachteten Kaninchen.
Chaos. Auf den Regalen, auf dem grobgezimmerten Tisch, auf dem Boden. Überall liegen verstaubte Damen– und Herrenbekleidung, fast neu aussehende Schuhe, aber auch Waffen aus Plastik und bunte Gartenzwerge … eben alles, was einem anspruchslosen Touristen wegen der tiefen Preise gefallen würde. Und Eines ist mir nun klar: Hier ist man in größter Eile abgereist. Ja, nur Chaos. Ich kann mich nicht erinnern, je etwas Vergleichbares gesehen zu haben, nicht in diesem Ausmaß.
Da ich schon vom Chaos rede: Wenn ich von Vojtyn, der kleinen Ortschaft nicht weit von Nejdek, zurückfahre, spüre ich Chaos auch in mir; nicht jedes Mal, aber oft. Es ist schon fast ein Jahr her, seit ich von diesem Dorf sprach, Herr Durbach, und ich glaube, damals nicht besonders ausführlich.
Es ist vielleicht nicht falsch, wenn ich jetzt etwas wiederhole – möglicherweise kommen ein paar neue Erinnerungen dazu.
Meine Vorfahren waren – sind – Deutsche. Waren sie aber Faschisten? Nein, wie wahrscheinlich die Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung im Sudetenland vor neununddreißig. Sie fühlten sich auch wie halbe Tschechen, wie meine Großmutter und Mutter, die nicht fehlerfrei, jedoch fließend das Tschechische beherrschten; die beiden brachten mir später – neben meinen Spielkameraden auf der Straße – diese slawische Sprache bei.
Mit ihrem direkten Nachbarn in Vojtyn verstanden sich meine Großeltern gut, die Frauen trafen sich fast an jedem Nachmittag. Frau Prokůpek sprach kein Tschechisch, obwohl ihr Mann ein halber Tscheche war. Im Juni fünfundvierzig gehörten sie deshalb zu den ersten deutschen Familien, die Vojtyn verlassen mussten; Gott sei Dank keine Schläge, keine Erniedrigungen, keine Schüsse.
Meine Vorfahren lebten vor und im Krieg in einem friedlichen Dorf. Die spätere Vertreibung, «Odsun» auf Tschechisch, soll in den meisten Ortschaften ganz anders verlaufen sein. Als meine Großeltern von den schrecklichen Ereignissen in Pohrlitz und Landskron hörten, wollten sie es fast nicht glauben.
Ich weiß nicht, Herr Durbach, ob diese Ausführlichkeit notwendig ist, vielleicht hat man sich in Ihrem Institut meinen schriftlichen Bericht etwas straffer vorgestellt. Die damals abgeschobene deutsche Familie Prokůpek spielte natürlich in meinem Lebenslauf – im Unterschied zu meiner Mutter – keine große Rolle.
Eines möchte ich allerdings betonen: Die Großeltern und Eltern, obwohl nach den Dokumenten Deutsche, waren gut integriert. Was die Beherrschung der tschechischen Sprache betrifft ohnehin und sonst auch. Mein Großvater arbeitete als Agronom in der Bezirksstadt Nejdek. Die Großeltern hofften, dass er zu der Gruppe der «Unentbehrlichen» gehören würde, kein «Odsun» also.
Dem war aber nicht so. Warum die Entscheidung, die Familie müsse doch abgeschoben werden, ungewöhnlich spät kam, erfuhren meine Eltern nie. Die Überlegung – nur eine Vermutung, weiter nichts – lief darauf hinaus, dass jemand von den zugewanderten Tschechen ein Auge auf die Stelle des Großvaters geworfen hatte, denn sein Posten wurde auffallend schnell wiederbesetzt.
Der Befehl lautete: Spätestens Ende September fünfundvierzig müsse das Haus geräumt und sauber geputzt zur Übergabe bereitstehen, denn ab diesem Zeitpunkt kommen zur Besichtigung die ersten tschechischen Familien. Ende Oktober werde die Schlüsselübergabe stattfinden, entweder an die neuen Besitzer oder, falls sich keine Interessenten melden würden, an die Gemeindeverwaltung.
Christa, meine Mutter, weinte, meine liebe Großmutter Annemarie auch, und ebenfalls die damals fünfundsechzigjährige Urgroßmutter Berta, die am meisten. Der Großvater tobte, einmal betrank er sich, dann schwieg er einige Tage hartnäckig.
Das Haus sollte aber – das war die gute Nachricht – nicht abgerissen oder enteignet werden, die Großeltern durften es verkaufen; sogar das Recht, einen Käufer selbst zu finden, wurde ihnen überraschenderweise eingeräumt.
Die Großmutter Annemarie, die schnellste und aktivste von allen, packte sofort an. Sie annoncierte in den Karlsbader und Prager Zeitungen. Es meldeten sich einige tschechische Familien, leider gaben die meisten bald auf. Zuletzt fanden nur zwei Hausbesichtigungen statt. Zum Vertragsabschluss kam es mit Blažeks aus Žatec.
Mit dieser Familie hatten meine Großeltern ausgesprochen Glück. Eine schnelle Einigung über den Preis des Hauses und auch keine Terminunklarheiten – so hat mir meine Mutter die damalige Situation beschrieben. Sie bekommt heute noch feuchte Augen, wenn sie von den alten Blažeks spricht.
Völlig unerwartete Sorgen brachte allerdings Berta, die Großmutter meiner Mama; sie weigerte sich nämlich auszuziehen. Nein, nein, nicht jetzt, vielleicht später, war ihre Entscheidung; und bald kam hinzu – wenn man mich dazu zwingt, bringe ich mich um.
Bleiben also.
Seitens der Behörden gab es erstaunlicherweise keine Einwände – Berta sprach tschechisch fast gleich gut wie deutsch – und Blažeks machten zur Überraschung und Freude meiner Großeltern mit, eine Ausnahmeregelung aus der Masaryk-Zeit machte es möglich. Berta bekam bei Blažeks ein eigenes Zimmer mit Waschbecken im zweiten Stock. Ohne Einverständnis und Mitwirken dieser tschechischen Familie wäre da eine äußerst schwierige Situation entstanden, das war den Großeltern klar. Als man zuhause von den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gesprochen hatte, hörte ich zum ersten Mal den Namen Tomáš Garrigue Masaryk.
Berta, achtzehnhundertachtzig geboren, lebte bei Blažeks über ein Jahr. Inzwischen etablierten sich die Großeltern in Bayern ganz gut; der Großvater fand zum Beispiel bald eine Stelle im Büro eines landwirtschaftlichen Betriebes.
Und auch da hatten sie, das wiederholte meine Großmutter oft, viel Glück: Etwa ein Jahr nach ihrer Abschiebung konnten sie Berta bei Blažeks abholen – ein wichtiges Kapitel im Leben unserer Familie; Berta leistete jetzt keinen Widerstand. Die Sehnsucht nach der eigenen Sippe war bei ihr offensichtlich größer als die Angst vor dem Verlassen des vertrauten Dorfes, dem Umzug und der fremden Umgebung.
Die Pflichten meines Berufslebens und die Ansprüche der Familie haben in der letzten Woche vorübergehend zugenommen, volle drei Tage kam ich nicht zum Schreiben. Heute galt es also, mich zuerst ein bisschen einzulesen, um den Faden zu finden. Manches musste ich wieder streichen; ja, die Unklarheit, welche Angaben Sie benötigen, Herr Durbach, ist momentan noch groß.
Fast zu groß. Sie ist so ausgeprägt, dass ich nicht weiß, ob ich überhaupt weiterberichten will.
Ehrlich gesagt, in diesem Augenblick eher nicht. Ich müsste in erster Linie doch wissen, ob es notwendig ist und wer das eigentlich braucht. Wissen Sie es? Vielleicht. Aber Sie sind vermutlich der Einzige. Kurz: Mir fehlen die Lust und die richtige Motivation … zu irgendetwas. Wobei, genauer betrachtet, die fehlen mir in letzter Zeit ganz allgemein. Meine Mutter, neunundsechzig, ein fitter und noch sehr aktiver Mensch, meint schon seit langem – da bist du, Laura, nicht die Einzige, so fühlen heutzutage viele Leute … ich glaube, uns geht’s zu gut.
Ja, ja, ich meckere. Das Meckern hilft nicht immer, aber oft, ich bin halt ein ausgesprochener Meckertyp. Diesen Zug von mir stellte man bereits in der Schule fest; nicht so schlimm, ich nahm es unaufgeregt und sachlich zur Kenntnis.
Ich habe bereits die zweite Pause eingeschaltet und mache nun doch weiter; nicht aber aus Überzeugung, dass es besonders wichtig wäre, was ich da schreibe. Im Augenblick ist mir für das Weiterberichten bloß der eine Grund bewusst: Ich habe es versprochen und ich erreiche jetzt niemanden, der mich von diesem Versprechen befreien könnte.
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