„Was war das?“, wollte Tamalone wissen.
„Sie haben mich gesehen. Jetzt habe ich ihre Erinnerungen durcheinandergebracht.“
„Sie mögen Euch vielleicht vergessen haben. Aber ich nicht. Ich weiß immer noch, über was wir gesprochen haben.“ Da war Trotz in Tamalones Stimme und ihre Hände hielt sie zu Fäusten geballt. Mehr gab ihre Kraft nicht her. Der Gedanke, diesen Ort der Sicherheit verlassen zu müssen, ließ ihre Beine schwach werden und ihre Arme zittern. Nur die Hoffnung, „Mutter“ möglicherweise wiederzusehen, half ihr, denn was konnte wichtiger sein, als „Mutter“ zu finden. Sie hob das Kinn. „Bei der Magie der Elfen, ich werde ‚Mutter‘ suchen gehen und die Station nicht eher wieder verlassen, bis ich sie gefunden habe.“ Doch bei dem Wort „Station“ sträubte sich etwas in ihr, was sie nicht so recht einfangen konnte.
Sumpfwasser betrachtete Tamalone mit kühlem Interesse. Dann erlaubte er sich ein leises Lächeln, das in den Mundwinkel begann, sich zur Nase hin ausbreitete, um dann auf dem Weg zu den Augen wieder zu erlöschen. „So stark ist dieser Zauber nicht, dass mich jemand vergisst, der mit mir geredet hat, Tamalone. Nicht für dich, nur für die anderen hier bin ich jetzt nicht mehr wichtig. Und so sollte es auch sein. Jetzt lebe wohl. Jemand anderes wird dir sagen, wann du aufzubrechen hast. Jemand von der Minengesellschaft. Es wird ein Mensch sein. Keiner von meiner Art.“
Der Wald verschluckte die Elfengestalt. Für einige Herzschläge atmete er noch einen Rest Elfenmagie aus, die in Tamalone das Verlangen weckte, Sumpfwasser hinterherzulaufen. Aber zunächst würde sie Mutter suchen gehen. Und in diesem einen Augenblick, der ihr einen Blick in das Innere der eigenen Seele erlaubte, erinnerte sie sich wieder. Es war kein Traum gewesen. Einmal noch war Mutter zurückgekommen, hatte in tiefster Nacht an ihrem Bett gesessen, sie geweckt und gesagt: „Suche in der Stadt nach mir. Vielleicht wirst du mich nicht gleich finden können, aber gib nicht auf. Nicht im Wald bin ich zu Haus. In der Stadt findest du die Antworten, die du suchst.“
Tamalone wusste nicht mehr, was Illusion, was Traum und was Wirklichkeit war. Nur eines wusste sie: Stadt! Nicht Station. Es heißt Stadt, wohin ich reisen muss! Beinahe hätte sie das dem Elfen noch hinterhergeschrien.
Tamalone hielt ihr Gesicht in den Fahrtwind. Unter ihr vibrierte das schwarz gestrichene Eisen des Dampfkessels. Er schnaufte und pustete so laut, dass seine Geräusche sich sogar gegen das Brausen des Windes behaupten konnten. Keine Frage, dieser Dampfkessel lebte und trug seinen Namen zurecht. Das „Ungeheuer der Tiefe“ war der berühmteste Erzfrachter der Minengesellschaft. Berühmt, weil mit ihm alles angefangen hatte, bekannt, weil er am meisten erlebt hatte, und bewundert, weil er der Stärkste war. So erzählten es die Alten, und Tamalone glaubte ihnen jedes Wort, denn die Kraft dieses Ungeheuers konnte sie nun überall spüren. Unter ihren Beinen, in ihrem Bauch und auch dazwischen. Von dort suchte sich das Rütteln und Stoßen seinen Weg durch das Rückgrat hindurch bis hoch oben in ihren Kopf.
Endlich frei!
Weg mit dem Band, das die Haare zusammenhielt. Sie wollte die unbändige Lust spüren, die in diesem wilden, neuen Gefühl steckte. Ein offenes Land, das jeden willkommen hieß, ein Fahrtwind, der von dem erzählte, was vor einem lag, und die Kraft einer mächtigen Maschine, die niemand und kein Gott aufzuhalten vermochten. Und sie saß ganz vorn auf der Lokomotive, den Schornstein im Rücken. Der schwarzblaue Rauch blieb hinter ihr wie alles, was bisher ihr Leben verdunkelt hatte. Lokführer und Heizer mochten sich im Führerstand verstecken. Sie nicht. Wo sonst hätte sie denn sitzen sollen als auf der Stirn der schwarzen Bestie? Nein, das unbekannte Land vor ihr wollte sie nicht einfach blind durcheilen. Ihm wollte sie begegnen, es grüßen, seinen Widerstand spüren. Sie warf den Kopf in den Nacken und ließ sich vom Wind die Haare zerzausen, als sie schrie: „Jetzt komme iiiiich!“
Oben der Himmel. In ihr die Vibrationen dieses Ungetüms aus Eisen, Dampf und Feuer. Sie gingen ihr durch den Körper, verbanden sie mit der Erde, wo unter ihr große Eisenräder über Eisenschienen mahlten und klack-Klack, klack-Klack, klack-Klack, Klackeraklack sangen. Tamalone war ihr Name, aber dieses Wort war viel zu umständlich für so viel Freiheit. Hier oben war sie Tama, weil hier oben die ganze Welt ihr Freund war. Vergessen war die Minengesellschaft, die keine Freunde kannte. Außer Mutter. Zu ihr fuhr sie jetzt hin, würde neue Leute kennenlernen und Freunde finden. Das schwarze Biest, das sie ritt, war ihr erster Freund, und es war egal, dass es aus Eisen bestand. Hauptsache, es besaß eine Seele. Es war auch egal, dass sie sich bald von ihm verabschieden würde, denn andere Freunde würden folgen. Neue Freunde. Da war sie sich sicher. Denn sie fuhr nach NA-R, der schönsten Stadt des Landes. NA-R! NeuAllerdamm-Rot. Keine Station. Eine richtige Stadt, hatte Mutter gesagt. Und Mutter irrte nie.
Tama zuckte zusammen. War das ein Pfiff hinter ihr? Sie hatte ein Gehör, auf das ein Luchs hätte stolz sein können, aber der Wind schlug ihr derartig auf die Ohren, dass sie sich nicht sicher war. Sie schloss die Augen und suchte mit ihrem inneren Blick das Grasland vor ihr ab. „Jedes Vorkommen von Vernunft zeigt sich dir. Musst nur schauen“, hörte sie Mutters Stimme. Doch viel gab es nicht zu entdecken. Nichts vor ihr, nichts neben ihr, nur hinter ihr die beiden hellen Flecken von Lokführer und Heizer. Zwei reinrassige Menschen. Klar, dass die leuchteten.
Der zweite Pfiff zerriss ihr beinahe die Ohren und kam aus der Dampfpfeife. Irgendwie war es dem Lokführer gelungen, den Schall noch rechtzeitig so abzuwürgen, dass er keinen Schaden anrichten konnte. Sie drehte sich um.
„He! Schluck Bier? Dann komm her.“
Sie sah die Stimme mehr, als dass sie sie hörte. Aber der hochgehobene Bierkrug, die deutlichen Mundbewegungen und die ruckartige Kopfbewegung ließen keinen Zweifel an der Einladung aufkommen. Sie sprang auf, tänzelte über den Dampfkessel und ließ sich dann auf die Brüstung des Führerstandes hinunter.
„Komm rein. Wo zwei arbeiten, hat auch noch ein Dritter Platz“, schrie der Lokführer und hielt ihr erst eine Hand entgegen, um ihr in den Führerstand zu helfen, und dann einen frisch gefüllten Krug. Tama trank durstig. Es war erstaunlich, wie viel Wasser der Fahrtwind aus einem Körper heraussaugen konnte. Trotz dichter Lederkleidung.
„Ist das erste Mal, dass du einen Erzfrachter reitest“, stellte der Lokführer fest. „Und jetzt willste bei der Minengesellschaft ganz groß rauskommen.“ Er klopfte sich auf die Brust. „Mir kann niemand mehr was vormachen. Ich fahre die Strecke schon seit fünfundzwanzig Jahren. Kenne jeden hier und alles. Hast einen Verwandten hoch oben in der Führung, was?“
„Stimmt, der ist schon lange dabei“, schrie der Heizer von hinten in den Donner von Eisen und Stahl.“ Er schrie gut, denn Tama konnte ihn verstehen.
„Ja, meine erste Fahrt. Aber in der Minengesellschaft kenne ich keinen.“
„Red‘ nicht. Es gibt keine Frauen auf Tour. Nicht bei den Wächtern und erst recht nicht auf der Lok. Höchstens in Begleitung und markiert.“ Der Lokführer machte eine vielsagende Geste mit zwei Fingern in Richtung Hals.
„Als Kind habe ich in einem Holzfällerlager gelebt. Danach kam die Mine. Beide hatten etwas gemeinsam. Du kannst nicht weit gucken.“ Tama hob den Krug.
„Aye. Das ist hier draußen anders. Wenn du erst einmal aus dem Wald heraus bist, ist alles flach. Bis zur Station und wohl auch noch darüber hinaus. Aber wenn du nicht von der Gesellschaft bist, warum biste dann hier? Du bist kein Wächter und du bist keine Fracht.“ Die Augen des Lokführers hatten einen lauernden Ausdruck eingenommen und Tama verstand nun auch die Einladung für das Bier.
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