Ludger studierte bereits an der Ruhr-Universität, als Barbara dort anfing. Wäre sie in einem großbürgerlichen Elternhaus aufgewachsen, wäre sie vielleicht lieber auf eine Schauspielschule gegangen. Vielleicht auch auf eine Kunst- oder Musikhochschule. Oder auf eine Journalistenschule. Aber all das lag jenseits ihres Horizonts. Also studierte sie aus dem Fächerkanon, den die RUB zu bieten hatte, das, was sie von dem, was sie zu kennen glaubte, am meisten interessierte: Sprache und Literatur, und zwar in den Sprachen, die ihr durch die Schule vertraut waren. Auf die Uni übertragen hieß das: Germanistik, Anglistik und Romanistik.
Oft holte sie Ludger in seinem Labor ab. Da roch es manchmal unangenehm, und nicht selten stank es sogar, denn Ludger hatte sich für Organische Chemie entschieden. Es konnte sein, dass ein Kommilitone – Frauen sah Barbara da nie – gerade mit irgendeinem Kohlenwasserstoff experimentierte und ihrem Freund dann Aromen ähnlich denen einer Herrenankleide in einer alten Sporthalle noch Stunden später in den Kleidern hingen und nach dem Kleiderwechsel immer noch in den Haaren. Da war es schon angenehmer, man begab sich rein literarisch ins Labor, dachte Barbara; man konnte ja, statt sich mit Brückenkopf-Diazonium-Ionen zu beschäftigen, auch mit Goethes Faust etwas pauschaler die Frage stellen, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Dass Barbara im faustischen Sinne mit heißem Bemühen studierte, um den Dingen auf den Grund zu gehen, kann man bei aller Sympathie nicht behaupten. Was die Welt im Innersten zusammenhält, interessierte sie weniger als der Umstand, wie genial diese Frage formuliert war. Wie Inhalte zu schönen Klängen werden – das war es, was sie faszinierte.
Mit großer Neugier nahm sie auch jenseits ihrer Studienfächer jede Gelegenheit wahr, Sprachwelten mit anderen Inhalten und anderen Klängen kennen zu lernen. Erst recht, wenn noch solche Anreize hinzukamen wie bei dem Portugiesisch-Lektor mit dem klassisch schönen Profil und der weichen Stimme, bei dem Lischboa nicht wie die portugiesische Hauptstadt klang, sondern wie das Versprechen einer Kuschelnacht. Gesagt hätte sie das dem Mann nie. Als Frau ergriff man nicht die Initiative.
Es scheint ohnehin so, als täten sich Ruhrgebietskinder schwer zu sagen, was sie fühlen, wonach sie sich sehnen. Selbst Barbara, die nicht unbedingt auf den Mund gefallen war und nicht ohne Grund Klassensprecherin, Schulsprecherin und dergleichen mehr gewesen war, neigte bei allem, was sie persönlich berührte, eher dazu auszudrücken, was sie nicht wollte.
So war es schon zu Schulzeiten gewesen, als sie am benachbarten Jungengymnasium an einem Russisch-Kurs teilnahm. Im Lehrerkollegium der benachbarten Schule gab es einen skurrilen alten Balten, der Knickerbocker trug, ein antikes Fahrrad fuhr und die Gabe hatte, in seinem Russisch-Kurs den Jungen und dem einen Mädchen vom Mädchengymnasium nicht nur diese merkwürdige Sprache mit ihren kyrillischen Buchstaben, sondern durch die Vermittlung von Sprichwörtern und Redensarten auch die russische Seele nahe zu bringen.
Er wählte dazu gern rhythmische Wendungen, die er mit besonderem Genuss durch seine von Kautabak gelblich verfärbten Zähne spuckte, was bei Sprüchen mit vielen Zischlauten besonders eindrucksvoll war, vor allem, wenn man im Streubereich der Spucke saß. Bei Щи да каща, пища наша , was so ähnlich klingt wie Schtschi da kaschtscha, pischtscha nascha und „Kohlsuppe und Grütze ist unsere Nahrung“ bedeutet, bekam man schon einmal etwas von dem Segen ab. Weshalb dieser Spruch Barbara unvergesslich war, auch wenn er erkenntnistheoretisch eindeutig weniger zu bieten hatte als der vom Käse, den es kostenlos nur in der Mausefalle gibt.
Angesichts der Zusammensetzung des Russisch-Kurses war es fast unvermeidlich, dass sich mindestens einer der Jungen in Barbara verliebte. Der, den es traf, hieß Wilm. Er war groß gewachsen und blond, ein richtiger Siegfried-Typ. Doch es gab aus Barbaras Sicht zwei Hindernisse. Das eine hieß Ludger, auch wenn der engste Körperkontakt, den sie bisher mit ihm gehabt hatte, der in der Tanzstunde gewesen war. Verlobt, wie das damals noch üblich war, waren sie auch nicht, denn damit wartete man, bis man volljährig war. Das andere Hindernis war Wilms Stimme. Die war nicht sonor wie Ludgers Bariton, sondern etwas zu hoch und etwas zu schleimig.
Als Wilm Barbara nicht nur zu Spaziergängen aufforderte, sondern sich zu der Frage verstieg, ob sie nicht „miteinander gehen“ könnten, sagte Barbara daher nein. Aber dieses Nein nachvollziehbar zu machen, indem sie erklärte, dass sie sich, wenn überhaupt einen „festen Freund“, dann einen mit erotischer Stimme wünschte, das brachte sie nicht fertig – wenn es ihr denn überhaupt in dieser Klarheit bewusst war.
Ein Studentenleben gab es nicht in Bochum, und schon gar keine Kneipenszene, wo man am Abend Freunde getroffen hätte. Nach dem letzten Seminar fuhr man nach Hause, jeder in seine Stadt. Hatte das damit zu tun, dass die Uni noch so jung war? Oder damit, dass nur die Allerwenigsten in der Nähe wohnten? War es typisch Ruhrgebiet, wo ja auch die Manager der großen Konzerne sich bis heute in keinem öffentlichen Lokal treffen, sondern außer in ihren privaten Zirkeln äußerstenfalls im Golfclub verkehren und gleich nach den Opernpremieren gern fluchtartig die Heimfahrt antreten? Darüber dachte Barbara damals nicht nach; aber es freute sie, dass sie demnächst an eine ganz andere, eine alte Uni wechseln durfte.
„It’s incredible!“, rief Suzanne, die ihr Zimmer unten in dem von Mrs. McAllister geführten Seton House hatte. Sie hatte recht: Es war wirklich unglaublich. Wann hatte eine der Studentinnen in diesem Wohnheim jemals täglich Post bekommen, und dann auch noch, wie die liebevolle Gestaltung der Umschläge vermuten ließ, von einem Verehrer! Wenn mal an einem Tag kein Brief von diesem Absender am Empfangstresen lag, konnte man darauf wetten, dass da am nächsten Tag gleich zwei liegen würden; denn dann hatte es nicht an der mangelhaften Aufmerksamkeit des Absenders, sondern an der Langsamkeit der Post gelegen. Suzanne bekam den Posteingang immer als Erste mit; sie schrieb bereits ihre Doktorarbeit und war deshalb häufiger im Hause als die anderen, die jeden Tag in die Vorlesungen und Seminare mussten.
Natürlich hatten die Bewohnerinnen alle längst gecheckt, dass der Autor der stets farbenfroh gestalteten, auffälligen Briefe Ludger hieß. Am liebsten hätten sie die Adressatin mit Fragen zu diesem scheinbar außergewöhnlichen Menschen gelöchert; aber dazu waren sie zu gut erzogen. Und Barbara hätte auch nur ungern sehr viel erzählt. Denn so sehr sie sich in dem Gefühl der Umworbenheit sonnte, so sehr verursachten ihr die Inhalte mancher der bunten Briefe doch Unbehagen. Das galt besonders für den in immer kürzeren Abständen geäußerten Wunsch nach einer baldigen Heirat, am liebsten sofort nach ihrer Rückkehr. Sie wollte doch einfach nur studieren und dann das Erlernte anwenden. Arbeiten, Geld verdienen, selbstbestimmt leben – war das etwa zu egoistisch?
Dass Barbara überhaupt im Ausland studieren konnte, war einem Stipendium zu verdanken. Zwar hatte sie immer Ferienjobs in den Semesterferien angenommen; aber für eine Universität im Ausland hätte das Geld, das sie dadurch zusammensparen konnte, nicht gereicht. Und ihre Eltern hätten zwar das letzte Hemd gegeben, um die Ambitionen ihrer Tochter zu unterstützen; aber das hätte Barbara nicht gewollt. Sie hatten ihretwegen schon auf genug verzichtet.
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