»Das Problem geht ja heutzutage schon bei den Schulanfängern los«, schaltete sich Marina ein. Natascha mochte sie auf Anhieb. Marina hatte frech-fransig geschnittenes, naturblondes, kurzes Haar und sprühte vor Lebensfreude. Das genaue Gegenteil von Natascha – sowohl im Hinblick darauf, was auf dem Kopf war, als auch bezüglich der Einstellung im Kopf. Dazu noch so jung, noch voller Träume und Tatendrang – beneidenswert… »Der Jüngste meiner Schwester ist auch gerade in die Schule gekommen«, sprach Marina weiter. »Da wird schon in der ersten Klasse Druck erzeugt. Sicher nicht bewusst, hoffe ich zumindest, aber er ist halt ganz automatisch da. Bereits die Sechsjährigen kreischen verzweifelt, wenn sie nicht das ersehnte Belohnungssymbol ins Heftchen bekommen, und messen sich daran, wie viele die anderen schon in ihren Heften haben! Und wenn jemand anderes kein Belohnungssymbol bekommt, sind sie voller Schadenfreude! Klar, es ist ja für Kinder wichtig zu verinnerlichen, dass Fleiß belohnt wird. Aber irgendwie hat es seltsame Züge angenommen, finde ich. Ich bin ja viel jünger als ihr…« Ihr stieg plötzlich die Röte ins Gesicht. »Keine Ahnung, vielleicht war das bei euch in der Grundschule ja auch schon so.« Nun blickte sie einen nach dem anderen an, als würde sie sich dafür entschuldigen wollen, den anderen gerade klargemacht zu haben, dass sie ihren Zenit schon überschritten hatten. Dann fuhr sie, ohne eine Antwort abzuwarten, mit ihren Ausführungen fort: »Und ihr werdet es kaum glauben – der ältere Sohn meiner Schwester geht schon ins Gymnasium, achte Klasse, und dort ist es heutzutage schon so weit, dass manche Kinder nicht mal bereit sind, einem erkrankten Kind die Hausaufgaben zu bringen. Die lassen kranke Kinder eiskalt hängen. Heftig! Natürlich passiert das nicht jedes Mal, klar, aber es passiert! Die Kinder entscheiden ganz gezielt, wen sie hängen lassen und wen nicht… Ich meine, war das früher auch schon so?« Sie wartete die Antwort nicht ab. »Passt auf, es wird noch besser!« Nun warf sie theatralisch die Hände in die Höhe. »Meine Schwester hat mir auch erzählt, dass es mitunter sogar vorkommt, dass Kinder manchmal bewusst falsche Aufgaben übermitteln, und das alles nur, um die anderen abzuhängen. Das ist doch krass!« Marina hatte sich regelrecht in Rage geredet. »Und das lässt man denen durchgehen… oder man verschließt die Augen davor, keine Ahnung! Aber wie sind die denn in dem Alter schon drauf?! Die Kinder werden doch quasi auf Ellenbogenmentalität getrimmt, lernen das von der Pike auf, weil es eben gang und gäbe ist, sich so zu verhalten. Schöne Zukunft!« In versöhnlicherem Ton fügte sie hinzu: »Vielleicht sind das auch nur Ausnahmen. Oder es ist nur dort an der Schule so. Hm… Meine Schwester dramatisiert schon mal ganz gerne. Aber erfunden hat sie das nicht.« Sie hielt kurz inne, war aber offensichtlich doch noch nicht alles losgeworden, was sie bewegte. »Aber wisst ihr, man muss sich nicht wundern, manche Eltern leben es ihren Kindern ja auch vor. Neulich zum Beispiel, da steh ich im Foyer des Kinos am Tresen, um Knabberzeug und Getränke zu kaufen. Der Tresen geht ums Eck, besteht also aus zwei Theken. Ich war früh dran und wartete. Hinter mir standen irgendwann weitere Leute. Jetzt kommt ein Mann hinter den Tresen, nur leider an die andere Ecke. Wie von der Tarantel gestochen rennt eine Mami mit ihren zwei Kindern – die drei hatten hinter mir gestanden – ans andere Eck und bestellt ihr Popcorn. Die wussten doch, dass ich vor ihnen gestanden hatte, und das nicht erst seit einer Minute. Also komm! Nicht, dass ihr mich falsch versteht, ich hatte es ja nicht eilig, und es lohnt sich ja eigentlich auch nicht, sich über sowas aufzuregen. Aber dennoch, das ist doch ein Spiegelbild des Zustands unserer Gesellschaft. Wisst ihr, was ich meine?« Sie redete in einem Tempo, das keine Einwände zuließ. »Jetzt sagt ihr vielleicht: ›Ja, blöd, so Leute gab und gibt es aber immer.‹ Stimmt auch! Aber irgendwie ist es doch immer häufiger so. Und was ich sagen möchte: Wen wundert‘s, dass dann die Kinder so werden!« Erneut hielt sie kurz inne, als hole sie sich das Okay, noch etwas hinzufügen zu dürfen. Vielleicht holte sie auch nur mal kurz Luft. Dann redete sie schnell weiter: »Oder versuch mal, auf eine stark frequentierte Straße draufzukommen. Bis dich da mal einer reinlässt. Und und und … Es ist einfach so eine Zeit heute, denke ich. Man ist eben fixiert auf sich selbst. Sicher die Hektik, der Zeitdruck, der Stress, keine Frage! Viele sind vielleicht immer unter Strom und werden dann so, phasenweise zumindest. Ich habe das ja alles erst noch vor mir, den Stress im Berufsleben, meine ich. Erst mal studiere ich – ganz gemütlich.« Sie lachte. »Und nun bin ich erst mal hier.« Sie schnappte sich ihr Bier.
Natascha staunte. Marina war unter Wasser das komplette Gegenteil, nämlich die Ruhe selbst. Aber das kannte Natascha ja von sich auch: Eintauchen – abschalten!
Nun meldete sich Ralf zu Wort: »Wegen der Schule: Zu unserer Zeit haben wir uns Mitschülern gegenüber auch nicht immer einwandfrei verhalten. Ich denke, das war schon immer so. Vielleicht erinnern wir uns nur nicht daran.« Er zögerte eine Sekunde. »Oder es hatte zu unserer Zeit einfach doch noch nicht dieses Ausmaß«, fügte er dann eher fragend hinzu. »Könnte schon sein, dass da was dran ist. Was meint ihr?«
»Die Kinder mit sechs bilden schon Teams, in die man dazugehört oder eben nicht. Da fängt das Mobbing quasi schon in der ersten Klasse an. Das ist schon erschreckend, finde ich«, warf nochmals Marina ein.
»Gab es bei uns früher aber auch, Banden und so«, sagte Ralf, den sich Natascha mit seinem spitzbübischen Gesicht, den rötlichen Haaren und den frechen Sommersprossen lebhaft als männliche Rote Zora vorstellen konnte, eine TV-Figur aus ihrer Kindheit. »Aber vielleicht in der vierten, nicht schon in der ersten…«
»Man darf und sollte das alles sicher nicht überbewerten, nicht gleich dramatisieren, zumal wir alle mit Abstand draufschauen, weil unsere Kindheit schon ein paar Tage her ist. Aber trotzdem, es ist schon was dran, als würde heute einfach alles früher seinen Gang nehmen, und auch viel intensiver – schlimmer«, schaltete sich Frank ein.
Der ausgeglichene Frank – besonnen wie immer, dachte Natascha. Die Ruhe, die Frank für gewöhnlich ausstrahlte, stand für sie immer irgendwie im Gegensatz zu seinem eher verwegenen Aussehen. Das hätte eher zum Klischee des coolen Surfers gepasst: von der Sonne gebleichtes, naturgewelltes, halblanges Haar, türkisblaue Augen, markante und doch zugleich weiche Gesichtszüge, der gestählte Körper eines Fitnesstrainers und die draufgängerische Aura eines Lebemannes, hinter der aber ein ganz anderer Frank zum Vorschein kam. Diese Mischung versprühte eine starke Anziehungskraft – sicher auf viele Frauen. Jennifer war ein Glückspilz! Wäre da nicht Mike Sauerländer – der gute Frank hätte sich vorsehen müssen, theoretisch zumindest, denn praktisch bestand keinerlei Gefahr, Frank war Jennifers Schatz. Natascha würde sich nie für den Mann einer anderen interessieren – nicht auf diese Art zumindest. Und seit sie selbst Opfer von Untreue geworden war, erst recht nicht. Aber das war ein anderes Thema…
Das Gesprochene hallte noch in Natascha nach. Sie musste an Lea denken. In welcher Welt würde sie groß werden? Stand es wirklich so schlimm um das menschliche Miteinander? Würde Lea sich in dieser rauen Wirklichkeit zurechtfinden? Würde sie zu denen gehören, die andere unterbutterten, oder zu denen, die untergebuttert wurden? Sie würde alles daransetzen, dass Lea sich zu einer liebevollen und trotzdem taffen Frau entwickeln würde. Diese Kombination musste doch möglich sein, oder nicht?! Seinen Weg gehen und das erfolgreich, aber nicht auf Kosten anderer. Lea das zu vermitteln, nahm sie sich in diesem Moment einmal mehr vor.
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