Ich vom Luzzone aus, im Sommer.
Vom Lago di Luzzone? Wenn ich von Dagro aus drei Stunden gebraucht habe, wie lange braucht man dann vom Luzzone?
Ach, man muss nur im Morgengrauen aufbrechen, dann ist man bis Sonnenuntergang wieder zurück und amen, sagt er. An seinem Ohrläppchen dehnt sich ein Wassertropfen in die Länge, reflektiert die erste Sonne, erzittert dann kurz und fällt ab. Er zieht sich wieder an, wickelt seine inzwischen trockene Seife in ein Stück Zeitungspapier und steckt sie in die Hosentasche, während die Talebene im frühen Morgenlicht Gestalt annimmt.
Wir laufen den Pfad hinunter, der sich harmonisch zwischen Heidelbeersträuchern und Alpenrosen und Felsen und Alpenkräutern in einer eine Handbreit tiefen Rinne als Zeugnis von Felices täglichem Kommen und Gehen dahinwindet.
Einige Lanzen aus kaltem Licht dringen schräg in den Kiefernwald ein und beleuchten die blauen Flügelfedern zweier Eichelhäher, die sich kreischend zwischen den vereinzelten Tannen verfolgen. Unterhalb des Waldes, auf dem Abschnitt zwischen den beiden Brücken, wühlt am Rand der Schotterstraße ein Eichhörnchen im Laub. Als es uns bemerkt, huscht es schnell einen hohen Stamm hinauf und verschwindet, eine Kastanie im Maul, in einer Spalte. Die letzten Vorräte für den Winter.
Wir treffen ihn mit dem ganzen Gewicht auf eine Schaufel gestützt an, eine Parisienne hängt ihm an den Lippen, sein benebelter Blick ist auf das langsame Wiederkäuen einer Kuh geheftet. Unsere Ankunft reißt ihn ruckartig aus seiner Dumpfheit, und die Zigarette fällt in einen Kuhfladen zwischen seinen Gummistiefeln, worauf er eine Schimpfkanonade loslässt, die für einen Augenblick das Kauen der Kühe unterbricht. Er fummelt die Zigarettenpackung aus der Hemdtasche, zündet sich eine neue an und nimmt einen tiefen Zug, der ihn wieder in seinen Halbschlaf verfallen lässt. Felice und ich setzen uns auf einen Heuballen.
Als er fertig geraucht hat, bietet Sosto uns frisch gemolkene Milch an, die er mit einer Kelle aus einer großen Kanne schöpft. Die Milch ist noch warm und ganz dickflüssig, das hatte ich fast vergessen. Als Kind bin ich oft mit einer Deckelkanne aus Plastik in die Ställe des Dorfs gegangen, um frisch gemolkene Milch zu holen. Und sagte immer, das ist, wie die Milch direkt von den Zitzen der Kühe zu trinken.
Hunderte von Mehlschwalben haben ihre letzte Nacht in Leontica in einem verfallenen Stall, unter einem Vordach oder auf den Dachbalken eines Heuschobers verbracht. Jetzt schwirren und zwitschern sie zu einem Abschiedstanz über dem Dorf, auf Wiedersehen im nächsten Frühling. Von der Biegung an der Alten Lärche aus sehen wir, dass sie sich nicht mehr auf den Stromleitungen niederlassen. Sie sind bereit. Es ist Zeit. Innerhalb von einer halben Stunde wird keine mehr da sein. Wir sind ganz in das Reisefieber der kleinen Vögel versunken, als das laute Wiehern des Maultiers durch die Luft gellt.
Vittorina hat gerade eine Tüte voller Gemüseabfälle in seinen Pferch geschüttet, und das Tier tut sich daran gütlich. Wir grüßen sie, sie erwidert den Gruß mit einem schüchternen Piepsen, kaut etwas und riecht nach Kaminfeuer.
Zusammen gehen wir weiter, sie ein paar Schritte hinter uns und an die andere Straßenseite gedrückt. Bevor wir den Dorfkern erreichen, klettert Felice über eine Holzpforte in den Garten eines vom Blenio Turismo verwalteten und zur Zeit unbewohnten Ferienchalets. Ich folge ihm, während Vittorina ihre Schritte beschleunigt und lautlos wie ein Schatten davonhuscht, froh, wieder allein zu sein, mit ihrem langen Zopf frei im Wind.
Aus seiner Shortstasche zieht Felice eine Plastiktüte. Die erntet ja doch keiner, diese Feigen hier, sagt er. Bis zum nächsten Sommer kommt nämlich keiner mehr her. Ist doch schade, sie den Vögeln zu überlassen, finde ich. Das sind späte Feigen, die hier. Er beißt in eine hinein. Sehr gut. Der einzige Baum mit spätreifen in Leontica.
Mit der Tüte voller Feigen machen wir uns auf den Heimweg. Bei einem verfallenen Stall begegnen wir Emilio, der im hohen Gras herumstöbert. Ein Salatblatt in der Hand.
Bòn, hier findest du bestimmt einen, sagt Felice und geht weiter.
Ich beobachte Emilio. Der sich auf einmal zufrieden aufrichtet. Mit etwas in den Fingern. Hab einen, sagt er. Er wickelt dieses Etwas in das Salatblatt, formt eine walnussgroße Kugel, steckt sie in den Mund und schluckt sie unzerkaut herunter.
Ich hole Felice ein. Was hat er denn da gegessen?
’nen Nérc.
He?
’nen Nérc. ’nen Schneck.
Eine Schnecke?
Aé. Gegen sein Magengeschwür.
Auf dem Weg ins Haus reißt er im Vorbeigehen ein Unkraut aus. Ich mache die Tür hinter mir zu, aber er macht sie wieder auf und auch die Fenster. Um die Sonne hereinzulassen, sagt er. Er legt die Feigen in eine Pappschachtel und sagt dann, komm mit. Wir gehen ein paar Steinstufen hinunter und stehen in seinem Keller. Der Boden aus gestampfter Erde, die gewölbte Steindecke voller Spinnweben und schwarzer Spinnen dick wie Hosenknöpfe und mit langen, haarigen Beinen. Oben ein kleines, offenes, nach Osten gehendes Fenster, das von einem Drahtgitter geschützt wird. Von der Decke hängen, so, dass die Mäuse nicht hinaufklettern können, einige Holzregale, die sich biegen unter dem Gewicht von Zwiebeln, Äpfeln, Kartoffeln, Möhren, Eiern, Knoblauch, Käse, Marroni, Walnüssen, Haselnüssen und Kisten und Kistchen mit allem, was das Herz begehrt. An einem Nagel an der Wand hängt eine Plastiktüte mit gespülten Joghurtgläsern. Alles ordentlich wie im Supermarkt. Er stellt die Schachtel mit den Feigen auf ein Regalbrett und sucht zwei rote Äpfel aus, wir gehen hinaus in die Sonne, setzen uns auf die Steinbänke und beißen hinein.
Als er seinen aufgegessen hat, geht er hinüber und wirft das Gehäuse auf den Haufen aus Obst- und Gemüseabfällen und Asche. Nachdem ich meinen gegessen habe, werfe ich das Gehäuse ebenfalls auf den Kompost.
In der Küche macht er sich an der Sarina zu schaffen. Mit einer Eisenschaufel entfernt er die Asche durch die untere Ofenklappe und füllt sie in einen Blecheimer. Um sie anschließend auf den Kompost zu kippen. Ich gehe in den Schuppen Holz holen und zünde das Feuer an. Felice sieht mir aus dem Augenwinkel zu und lässt mich machen, ohne etwas zu sagen, dann setze ich mich draußen zu ihm auf die Granitbank.
Er hat den krummen Stamm des Birnbaums im Blick. Ich sehe mich um. Eine Weile schaue ich einer Wolke zu, die über das Tal südwärts reist, dann betrachte ich die Berge. Der Adula mit seinem Gletscher im Kampf gegen die Klimaerwärmung, gezwungen, jeden Tag ein Stück Geschichte, unserer Geschichte, bachab gehen zu lassen. Seine Erinnerungen immer kümmerlicher wie bei einem alzheimerkranken Alten.
Hinten in der Gasse sehe ich den Kopf der Postbotin Alfonsa auftauchen. Sie kommt mit ihrer gelben Umhängetasche an Vittorinas Briefkasten vorbei, bleibt aber nicht stehen, sondern hält geradewegs auf uns zu. Hier, Felice, ich hab was für dich. Ich schätze, du wirst zur Kasse gebeten, sagt sie. Nimm, das ist die Stromrechnung. Aber der hier, wo kommt der denn her, Felice? Aus China?, fragt sie spitzgesichtig und wedelt mit einem Brief mit handgeschriebener Adresse.
China?, wiederholt Felice und späht von dem Brief der Stromgesellschaft auf den in der Hand der Postbotin.
Na, mit so einer Briefmarke, wo man überhaupt nicht kapiert, was da drauf steht, sagt sie und reicht ihm den Brief.
Felice mustert ihn von vorn und hinten, dann zeichnet sich ein ungläubiger Ausdruck auf seinem Gesicht ab.
Ich frage sie, ob sie auch etwas für mich hat.
Nein, antwortet sie. Aber da hängt eine Tüte an der Tür. Sie wünscht uns einen schönen Tag und trägt hinter uns bei der Lehrerin Sabina ihre Post weiter aus. Bobi bellt.
Ich gehe mal nachsehen, sage ich zu Felice. Er scheint mich gar nicht zu hören, sitzt wie versteinert da, als hätte er einen Bescheid über eine Zwangsvollstreckung erhalten, und starrt auf den Umschlag mit der handgeschriebenen Adresse und der unlesbaren Briefmarke.
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