»Mrs. Fairfax!«, rief ich entsetzt, denn ich hörte sie jetzt die Treppe herunterkommen. »Haben Sie dieses laute Lachen gehört? Wer ist das?«
»Sehr wahrscheinlich einer von den Dienstboten«, antwortete sie. »Vielleicht Grace Poole.«
»Haben Sie es gehört?«, fragte ich erneut.
»Ja, ganz deutlich; ich höre sie oft. Sie näht in einem dieser Zimmer. Manchmal ist Leah bei ihr; die beiden machen öfters viel Lärm, wenn sie zusammen sind.«
Noch einmal ertönte das Lachen, diesmal wieder leiser und abgehackt. Dann verlor es sich in einem unverständlichen Gemurmel.
»Grace!«, rief Mrs. Fairfax.
Ich erwartete eigentlich nicht, dass irgendeine Grace antworten würde, denn dieses Lachen war so tragisch, so übernatürlich, wie ich es noch nie gehört hatte; und nur weil es heller Mittag war und nichts Gespenstisches die sonderbaren Laute begleitete – nur weil weder Ort noch Zeit Anlass zur Angst gaben, verspürte ich keine abergläubische Furcht. Doch was gleich darauf geschah, zeigte mir, wie töricht selbst mein Befremden gewesen war.
Die mir am nächsten gelegene Tür ging auf, und eine Magd kam heraus – eine Frau zwischen dreißig und vierzig, gesetzt und stämmig, mit roten Haaren und einem harten, reizlosen Gesicht: Eine weniger romantische oder geisterhafte Erscheinung hätte man sich kaum vorstellen können.
»Zu viel Lärm, Grace«, sagte Mrs. Fairfax. »Denken Sie an die Anweisungen!« Grace knickste schweigend und ging wieder hinein.
»Wir haben sie zum Nähen eingestellt, und damit sie Leah bei der Hausarbeit hilft«, fuhr die Witwe fort. »In mancher Hinsicht könnte man etwas gegen sie einwenden, aber ihre Arbeit macht sie recht gut. Übrigens – wie sind Sie heute Morgen mit Ihrer neuen Schülerin zurechtgekommen?«
Damit kam das Gespräch auf Adèle, und wir unterhielten uns über sie, bis wir wieder in die hellen, freundlichen unteren Regionen gelangten. Adèle lief uns in der Eingangshalle entgegen und rief:
»Mesdames, vous êtes servies!« Und rasch fügte sie hinzu: »J’ai bien faim, moi!«
Wir gingen in Mrs. Fairfax’ Zimmer, wo das Essen bereits aufgetragen war.
Die Aussicht auf eine problemlose, erfreuliche Tätigkeit, die mein beschaulicher Empfang am ersten Tag in Thornfield Hall zu versprechen schien, wurde bei längerer Bekanntschaft mit dem Haus und seinen Bewohnern nicht Lügen gestraft. Mrs. Fairfax war tatsächlich genau so, wie sie auf den ersten Blick gewirkt hatte, nämlich eine sanftmütige, liebenswürdige Frau von hinreichender Bildung und durchschnittlicher Intelligenz. Meine Schülerin war ein heiteres, quicklebendiges Kind, verwöhnt und verzogen, und deshalb manchmal etwas widerspenstig und eigensinnig. Doch da sie ausschließlich meiner Obhut anvertraut war und keinerlei unvernünftige Einmischung von irgendeiner Seite meine Erziehungspläne hintertrieb, vergaß sie bald ihre Launen und wurde gehorsam und gelehrig. Sie besaß keine besonderen Begabungen, keine hervorstechenden Charaktereigenschaften und keine ausgefallenen Gefühle oder Neigungen, die sie auch nur im Geringsten aus der Masse der Kinder ihres Alters herausgehoben hätten; allerdings hatte sie auch keine Fehler oder Laster, die besonders schlimm gewesen wären. Sie machte annehmbare Fortschritte und hatte eine lebhafte, wenn auch vielleicht nicht sehr tiefe Zuneigung zu mir gefasst; und durch ihre unbefangene Art, ihr fröhliches Geplapper und ihr Bemühen, es mir recht zu machen, weckte sie auch in mir ein Gefühl der Zuneigung, das so stark war, dass ich mich in ihrer Gesellschaft ebenso wohl fühlte wie sie sich in meiner.
Leute – dies par parenthèse–, die ernsthaft der Überzeugung anhängen, Kinder seien Engel und die mit ihrer Erziehung Beauftragten müssten ihnen abgöttische Verehrung entgegenbringen, werden meine Worte recht kühl und nüchtern finden. Aber ich schreibe nicht, um elterlicher Selbstgefälligkeit zu schmeicheln, Heucheleien zu verbreiten oder irgendwelchem Unsinn Vorschub zu leisten; ich sage nur die Wahrheit. Ich fühlte mich für Adèles Wohlergehen und Vorankommen verantwortlich, und ich mochte das kleine Persönchen wirklich gern, genauso wie ich Mrs. Fairfax für ihre Freundlichkeit dankbar war und in ihrer Gesellschaft eine Freude empfand, die der stillen Achtung, die sie mir entgegenbrachte, und ihrem zurückhaltenden Wesen und Auftreten entsprach.
Wer will, mag mich tadeln, wenn ich weiter hinzufüge, dass ich zuweilen – wenn ich allein durch den Park spazierte, wenn ich zum Tor hinunterging und auf die Straße hinaussah, oder wenn ich, während Adèle mit ihrem Kindermädchen spielte und Mrs. Fairfax in der Vorratskammer Gelee zubereitete – die drei Treppen hinaufstieg, die Falltür in der Mansarde hochhob und vom Dach aus meinen Blick über die einsamen Felder und Hügel und den in der Ferne verschwimmenden Horizont schweifen ließ – dass ich mir dann ein Sehvermögen wünschte, das jene Grenze überwinden könnte, das es mir gestattete, einen Blick auf die betriebsame Welt, die geschäftigen Städte, die Regionen voller Leben zu werfen, von denen ich zwar gehört, die ich aber noch nie gesehen hatte – dass ich mich nach mehr praktischer Erfahrung sehnte, als ich bisher erworben hatte, nach mehr Kontakt mit meinen Mitmenschen, nach mehr Begegnungen mit vielseitigeren Charakteren, als sie hier für mich erreichbar waren. Ich schätzte die guten Seiten an Mrs. Fairfax und auch an Adèle durchaus, aber ich war überzeugt, dass es noch andere, weniger passive gute Eigenschaften gab, und es verlangte mich danach, das, woran ich glaubte, mit eigenen Augen zu sehen.
Wer wird es mir verdenken? Zweifellos viele. Man wird mich unzufrieden und undankbar nennen. Ich war indes machtlos dagegen; die Ruhelosigkeit lag in meiner Natur, und manchmal versetzte sie mich in solche Erregung, dass ich geradezu körperlichen Schmerz empfand. Dann fand ich die einzige Erleichterung darin, den langen Gang im dritten Stock, wo ich mich in der dort herrschenden Stille und Einsamkeit sicher und geborgen fühlte, auf und ab zu gehen und mich den heiteren Traumbildern hinzugeben, die vor meinem geistigen Auge aufstiegen – und es waren viele fesselnde Visionen. Mein Herz hob und senkte sich mit wildem Pochen, und wenn es dabei auch vor Kummer anschwoll, so war es doch mit Leben erfüllt. Vor allem aber fand ich Trost darin, mein inneres Ohr einer unendlichen Geschichte lauschen zu lassen – einer Geschichte, die meiner Phantasie entsprang, sich ständig weiterentwickelte und von all den Ereignissen, dem Leben, dem Feuer und den Gefühlen vorangetrieben wurde, nach denen ich mich sehnte und die ich in meinem damaligen Dasein so schmerzlich vermisste.
Es ist zwecklos zu fordern, der Mensch solle sich mit einem beschaulichen Leben zufriedengeben. Er braucht Betätigung und Abwechslung, und wenn er sie nicht findet, schafft er sie sich selbst. Millionen sind zu einer noch geruhsameren und eintönigeren Existenz verdammt als ich, und Millionen lehnen sich stumm gegen ihr Los auf. Niemand weiß, wie viel Aufruhr und Rebellion – abgesehen von politischer Empörung – in den Menschenmassen gären, die die Erde bevölkern. Frauen gelten im Allgemeinen als sehr ruhig und sanftmütig, aber sie fühlen nicht anders als Männer; sie müssen ihre Begabungen ebenso erproben können wie ihre Brüder, und genau wie diese brauchen sie einen Bereich, in dem sie ihre Fähigkeiten entfalten können. Sie leiden unter allzu starker Einschränkung und erzwungener Tatenlosigkeit nicht weniger als Männer, und es ist engstirnig, wenn ihre privilegierteren Mitmenschen sagen, sie sollten sich aufs Puddingkochen und Strümpfestricken, aufs Klavierspielen und Taschenbesticken beschränken. Es ist gedankenlos, sie zu verurteilen oder sich über sie lustig zu machen, wenn sie bestrebt sind, mehr zu tun oder zu lernen als das, was Tradition und Sitte ihrem Geschlecht zubilligen.
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