»Eyre – Jane Eyre.«
»Aire? Bah, das kann ich nicht aussprechen. Also, am Morgen, noch bevor es richtig hell war, hielt unser Schiff in einer großen Stadt – in einer riesengroßen Stadt mit ganz dunklen Häusern, und alles war ganz rußig und ganz anders als die hübsche, saubere Stadt, aus der ich kam; und Mr. Rochester trug mich auf den Armen über einen Steg an Land, und Sophie folgte uns, und dann stiegen wir alle in eine Kutsche, die uns zu einem schönen, großen Haus brachte, viel größer und eleganter als dieses hier, das hieß Hotel. Dort sind wir fast eine Woche geblieben, und ich bin mit Sophie jeden Tag auf einem großen grünen Platz voller Bäume spazieren gegangen, den die Leute Park nannten, und dort gab es noch viele andere Kinder außer mir und einen Teich mit wunderschönen Vögeln, die ich mit Brotkrumen gefüttert habe.«
»Können Sie sie denn verstehen, wenn sie so schnell spricht?«, erkundigte sich Mrs. Fairfax.
Ich verstand sie ausgezeichnet, denn ich war an die flüssige Sprechweise von Madame Pierrot gewohnt.
»Könnten Sie ihr wohl ein paar Fragen über ihre Eltern stellen?«, fuhr die gute Frau fort. »Ich hätte gern gewusst, ob sie sich noch an sie erinnert.«
»Adèle«, wandte ich mich an das Kind, »bei wem hast du in der hübschen, sauberen Stadt gelebt, die du vorhin erwähnt hast?«
»Ganz früher war ich mit Mama zusammen; aber dann ist sie zur Heiligen Mutter Gottes gegangen. Mama hat mir Tanzen beigebracht und Singen und Verse-Aufsagen. Viele vornehme Damen und Herren haben Mama besucht, und ich habe vor ihnen getanzt oder auf ihrem Schoß gesessen und ihnen etwas vorgesungen. Das hat mir gefallen. Soll ich Ihnen jetzt etwas vorsingen?«
Da sie ihr Frühstück beendet hatte, erlaubte ich ihr, uns eine Kostprobe ihres Könnens zu geben. Sie kletterte von ihrem Stuhl herunter, kam zu mir und setzte sich auf meinen Schoß; dann faltete sie ernst und sittsam die Hände, schüttelte ihre Locken aus dem Gesicht, richtete den Blick zur Decke und begann, eine Melodie aus einer Oper zu singen. Es war die Arie einer verlassenen Frau, die die Untreue ihres Geliebten beweint, sich dann jedoch auf ihren Stolz besinnt: Sie befiehlt ihrer Zofe, ihr die prachtvollsten Juwelen und kostbarsten Kleider anzulegen, und beschließt, dem Treulosen auf dem abendlichen Ball gegenüberzutreten, um ihm durch ihre Fröhlichkeit und Ausgelassenheit zu zeigen, wie wenig sein Verrat sie berührte.
Die Wahl eines solchen Themas für eine so junge Sängerin befremdete mich. Vermutlich sollte der Reiz der Darbietung gerade darin liegen, die Kunde von Liebe und Eifersucht mit der Unbefangenheit eines unschuldigen Kindes geträllert zu hören, und dies war – zumindest nach meinem Dafürhalten – von äußerster Geschmacklosigkeit.
Adèle sang die kurze Arie recht wohlklingend und mit der Naivität ihres Alters. Kaum war sie damit fertig, da sprang sie von meinem Schoß und erklärte: »Und jetzt, Mademoiselle, will ich Ihnen ein Gedicht aufsagen.«
Sie stellte sich in Positur und kündigte La Ligue des Rats; fable de La Fontaine an. Dann deklamierte sie das kurze Stück mit so großem Augenmerk auf Interpunktion und Betonung, einer solchen Bandbreite stimmlicher Ausdrucksmöglichkeiten und dazu passenden Gesten, wie es für ihr Alter in der Tat sehr ungewöhnlich war. Es bewies, dass sie sorgfältig geschult worden war.
»Hat deine Mama dich das Stück gelehrt?«, fragte ich.
»Ja, und sie hat es genauso gesagt: ›Qu’avez-vous donc? lui dit un de ces rats; parlez!‹Sie brachte mir auch bei, die Hand zu heben – so –, damit ich nicht vergesse, bei der Frage meine Stimme zu erheben. Soll ich Ihnen jetzt etwas vortanzen?«
»Nein, das genügt. Aber bei wem hast du denn gelebt, nachdem deine Mama, wie du sagst, zur Heiligen Mutter Gottes gegangen war?«
»Bei Madame Frédéric und ihrem Mann. Sie hat sich um mich gekümmert, aber sie ist nicht mit mir verwandt. Ich glaube, sie ist arm, denn sie hatte kein so schönes Haus wie Mama. Ich war nicht lange dort. Mr. Rochester hat mich gefragt, ob ich mit ihm nach England gehen und dort bei ihm leben wollte, und ich habe ja gesagt; ich kannte Mr. Rochester nämlich schon lange vor Madame Frédéric, und er ist immer nett zu mir gewesen und hat mir hübsche Kleider und Spielsachen geschenkt; aber, sehen Sie, er hat sein Wort nicht gehalten. Er hat mich zwar nach England gebracht, aber er selbst ist wieder zurückgegangen, und ich sehe ihn nie.«
Nach dem Frühstück zog ich mich mit Adèle in die Bibliothek zurück, die offenbar auf Mr. Rochesters Anordnung hin als Schulzimmer dienen sollte. Die meisten Bücher waren hinter Glastüren verschlossen; einen Schrank hatte man jedoch offen gelassen, und er enthielt alles, was man für den Grundschulunterricht benötigte, sowie mehrere Bände leichterer Literatur, Lyrik, Biografien, Reisebeschreibungen, ein paar Romane und dergleichen mehr. Wahrscheinlich war er der Ansicht gewesen, diese Auswahl genüge dem Bedarf der Erzieherin an Privatlektüre. Und in der Tat stellte sie mich für den Augenblick vollauf zufrieden, denn verglichen mit den kärglichen Körnchen, die ich in Lowood hie und da aufzulesen vermocht hatte, schien sie mir eine reiche Ernte an Unterhaltung und Belehrung zu versprechen. In dem Raum standen auch ein Klavier, das noch recht neu war und einen sehr guten Klang hatte, ein Erd- und ein Himmelsglobus sowie eine Staffelei.
Meine Schülerin erwies sich als recht gelehrig, wenn auch nicht sonderlich geneigt, sich der neuen Situation anzupassen. Sie war an keinerlei regelmäßige Beschäftigung gewöhnt, und ich hielt es für unklug, sie gleich zu Beginn zu lange einzusperren. Deshalb erlaubte ich ihr, gegen Mittag zu ihrem Kindermädchen zurückzukehren, nachdem ich mich zuvor lange mit ihr unterhalten und sie dann dazu gebracht hatte, ein bisschen zu lernen. Ich selbst wollte die Zeit bis zum Essen nutzen, um ein paar kleine Skizzen für sie anzufertigen.
Als ich nach oben ging, um meine Zeichenmappe und die Bleistifte zu holen, rief mir Mrs. Fairfax zu: »Der Vormittagsunterricht ist wohl zu Ende?« Sie war in einem Zimmer, dessen Flügeltüren offen standen. Ich ging zu ihr hinein. Es war ein großer, prachtvoller Raum mit purpurroten Stühlen und Vorhängen, einem türkischen Teppich, einem riesigen Fenster aus buntem Glas und einer hohen, kunstvoll gestalteten Decke. Die Wände waren mit Walnussholz getäfelt. Mrs. Fairfax staubte gerade einige wunderschöne Vasen aus purpurrotem Kristall ab, die auf einer Anrichte standen.
»Was für ein herrliches Zimmer!«, rief ich aus, als ich mich umblickte. Noch nie hatte ich etwas auch nur annähernd so Großartiges gesehen.
»Ja, das ist das Speisezimmer. Ich habe gerade das Fenster aufgemacht, um ein wenig frische Luft und Sonnenschein hereinzulassen; in Räumen, die nur selten bewohnt werden, wird ja alles so feucht und klamm. Im Salon drüben kommt man sich vor wie in einer Gruft.«
Sie wies auf einen breiten, bogenförmigen Durchgang, der dem Fenster gegenüberlag und ebenfalls mit einem purpurnen, jetzt allerdings hochgebundenen Vorhang verkleidet war. Ich stieg die beiden großen Stufen davor hinauf, und als ich hindurchblickte, glaubte ich einen Märchenpalast vor mir zu sehen, so wunderbar erschien meinen an solche Pracht nicht gewöhnten Augen alles. Dabei war es nur ein sehr hübscher Salon mit einem Boudoir. Beide Räume waren mit weißen Teppichen ausgelegt, auf denen leuchtende Blumengirlanden ausgebreitet zu sein schienen; in beiden waren die Decken mit schneeweißen Trauben und Weinlaub verziert, und darunter glühten in großartigem Kontrast karmesinrote Chaiselongues und Sofas, während der Zierrat auf dem hellen marmornen Kaminsims aus funkelndem rubinrotem böhmischen Kristall war, und zwischen den Fenstern setzte sich in großen Spiegeln diese harmonische Verschmelzung von Schnee und Feuer fort.
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