»In welcher Ordnung Sie diese Räume halten, Mrs. Fairfax!«, sagte ich. »Kein Stäubchen, keine Schutzbezüge über den Möbeln. Wäre die Luft nicht so kalt, könnte man denken, sie seien ständig bewohnt.«
»Ja, sehen Sie, Miss Eyre, Mr. Rochester kommt zwar selten hierher, aber seine Besuche sind immer überraschend und unerwartet; und da ich bemerkt habe, dass es ihn stört, wenn bei seiner Ankunft die Möbel zugedeckt und erst noch eine Reihe von Vorbereitungen zu treffen sind, hielt ich es für das Beste, dafür zu sorgen, dass die Räume jederzeit bewohnbar sind.«
»Ist Mr. Rochester denn so kleinlich und anspruchsvoll?«
»Nein, eigentlich nicht; aber er hat die Vorlieben und Gewohnheiten eines vornehmen Herrn, und er erwartet, dass man diesen Rechnung trägt.«
»Mögen Sie ihn? Ist er allgemein beliebt?«
»O ja! Die Familie hat hier immer großes Ansehen genossen. So weit das Auge reicht, gehört fast das gesamte Land in dieser Gegend seit undenklichen Zeiten den Rochesters.«
»Nun gut, aber einmal abgesehen von seinem Besitz – mögen Sie ihn als Mensch? Ist er um seiner selbst willen beliebt?«
»Ich persönlich habe keinen Grund, ihn nicht zu mögen, und ich glaube, seine Pächter halten ihn für einen gerechten und aufgeschlossenen Gutsherrn: aber er hat ja nie lange hier gelebt.«
»Hat er denn keine Eigenheiten? Kurzum: Wie ist sein Charakter?«
»Sein Charakter ist meiner Meinung nach untadelig. Vielleicht ist er ein wenig eigen; er ist weit gereist und hat wohl eine Menge von der Welt gesehen. Bestimmt ist er klug, allerdings habe ich nie viel Gelegenheit gehabt, mich mit ihm zu unterhalten.«
»Inwiefern ist er eigen?«
»Ich weiß nicht – es ist nicht leicht zu beschreiben – nichts Greifbares, aber man spürt es, wenn er mit einem spricht: Man weiß nicht immer, ob er etwas im Scherz sagt oder es ernst meint, ob er zufrieden ist oder nicht. Kurz, es ist schwer, ihn wirklich zu verstehen – zumindest mir fällt es schwer. Aber das hat nichts zu sagen. Jedenfalls ist er ein sehr guter Herr.«
Das war alles, was ich von Mrs. Fairfax über ihren und meinen Brotherrn erfuhr. Es gibt Leute, die offenbar absolut kein Talent dafür haben, ein Charakterbild zu zeichnen oder hervorstechende Merkmale, sei es von Personen oder Dingen, zu beobachten und zu beschreiben, und die gute Frau gehörte zu diesen. Meine Fragen verwirrten sie, brachten aber nichts aus ihr heraus. In ihren Augen war Mr. Rochester eben Mr. Rochester: ein vornehmer Herr, ein Gutsbesitzer – sonst nichts; mehr wollte sie auch gar nicht wissen, und sicherlich wunderte sie sich über meinen Wunsch, mir eine genauere Vorstellung von seiner Persönlichkeit zu machen.
Als wir das Speisezimmer verließen, schlug sie vor, mir das ganze Haus zu zeigen. Ich folgte ihr treppauf, treppab und verlieh immer wieder meiner Bewunderung Ausdruck, denn alles war geschmackvoll eingerichtet und ordentlich. Die großen Zimmer, die nach vorne lagen, kamen mir besonders prachtvoll vor, während einige der Räume im dritten Stock, obwohl dunkel und niedrig, mich aufgrund ihrer Altertümlichkeit beeindruckten. Das Mobiliar der unteren Gemächer war von Zeit zu Zeit, wenn sich die Mode wieder einmal gewandelt hatte, hierher gebracht worden, und im spärlichen Licht, das durch die schmalen Fenster drang, sah man hundert Jahre alte Bettgestelle, Truhen aus Eichen- oder Walnussholz, die mit ihren seltsamen Schnitzereien von Palmzweigen und Engelsköpfen wie Nachbildungen der Lade der Israelitenaussahen, Reihen von altehrwürdigen schmalen Stühlen mit hohen Lehnen, noch ältere Hocker, auf deren gepolsterten Sitzflächen Spuren halb abgewetzter Stickereien erkennbar waren, von Fingern angefertigt, die schon seit zwei Generationen zu Staub zerfallen in ihrem Sarg lagen. All diese Zeugen längst vergangener Tage ließen das dritte Stockwerk von Thornfield Hall wie eine Heimstätte der Vergangenheit, einen Schrein der Erinnerung anmuten. Bei Tag mochte ich die Stille, die Düsterkeit, die eigentümliche Atmosphäre dieser abgeschiedenen Räume, doch unter keinen Umständen hätte ich eine Nacht in einem jener breiten, schweren Betten verbringen wollen, von denen einige mit Eichenholztürenverschlossen und andere mit alten, handgearbeiteten, mit Stickereien überladenen Vorhängen umgeben waren. Die darauf dargestellten seltsamen Blumen, noch seltsameren Vögel und höchst seltsamen menschlichen Wesen hätten im fahlen Licht des Mondes bestimmt noch viel unheimlicher ausgesehen!
»Schlafen die Dienstboten in diesen Zimmern?«, fragte ich.
»Nein. Sie haben eine Reihe kleinerer Zimmer nach hinten hinaus. Hier schläft nie jemand. Fast wäre man versucht zu sagen, wenn es ein Gespenst in Thornfield Hall gäbe, so ginge es bestimmt hier um.«
»Das glaube ich auch. Es gibt hier also kein Gespenst?«
»Ich habe zumindest noch nie von einem gehört«, erwiderte Mrs. Fairfax lächelnd.
»Und auch keine Berichte, dass es einmal eines gegeben hat? Keine Sagen oder Spukgeschichten?«
»Nicht dass ich wüsste, obwohl es heißt, die Rochesters seien einst eine nicht eben friedfertige, sondern eher gewalttätige Sippe gewesen. Vielleicht ruhen sie aber gerade deshalb heute so friedlich in ihren Gräbern.«
»Ja, ›sanft schlafen sie nach des Lebens Fieberschauern‹«, murmelte ich. »Wohin gehen Sie, Mrs. Fairfax?«, rief ich, denn sie entfernte sich.
»Aufs Dach. Wollen Sie mitkommen und sich die Aussicht von dort oben einmal ansehen?« Wieder folgte ich ihr, diesmal über eine sehr schmale Treppe zu den Mansarden und von dort weiter über eine Leiter und durch eine Falltür auf das Dach des Hauses. Ich befand mich nun auf gleicher Höhe mit der Krähenkolonie und konnte in die Nester hineinsehen. Als ich mich über die Zinnen beugte und hinunterblickte, lag der Park wie eine Landkarte ausgebreitet vor mir. Ich sah den leuchtend grünen, samtenen Rasen, der die grauen Mauern des Hauses unten eng umschloss; die sich wie ein Park weit ausdehnende Wiese, auf der sich die alten Bäume als dunkle Punkte abhoben; den schon herbstlich gefärbten Wald mit seinem moosbedeckten Pfad, der grüner leuchtete als das Laub an den Bäumen; die Kirche beim Tor, die Straße, die stillen Hügel. Alles lag friedlich im Sonnenlicht des schönen Herbsttages unter einem tiefblauen, perlweiß marmorierten Himmel, der am Horizont mit der Landschaft verschmolz. Der Anblick bot nichts Außergewöhnliches, doch er war lieblich und wohltuend. Als ich mich abwandte und wieder durch die Luke hinunterstieg, konnte ich kaum die Sprossen der Leiter erkennen; verglichen mit dem Blau des Himmels, zu dem ich eben emporgeblickt hatte, und den sonnenbeschienenen Wäldern, Weiden und grünen Hügeln, deren Mittelpunkt Thornfield Hall bildete und über die mein Blick voller Entzücken gewandert war, kam mir die Mansarde nun dunkel und trostlos vor wie eine Gruft.
Mrs. Fairfax blieb einen Augenblick zurück, um die Falltür zu schließen. Tastend fand ich die Mansardentür und stieg die enge Bodentreppe hinunter. Auf dem langen Gang, auf den sie führte und der die Vorder- und Hinterzimmer des dritten Stocks voneinander trennte, zögerte ich. Er war schmal, niedrig und düster, mit nur einem einzigen winzigen Fenster ganz hinten am anderen Ende, und sah mit den Reihen kleiner, geschlossener schwarzer Türen zu beiden Seiten aus wie ein Korridor in Ritter Blaubarts Schloss.
Während ich langsam weiterging, drang ein Laut an mein Ohr, den ich in einer so stillen Umgebung am allerwenigsten erwartet hätte: ein Lachen. Es war ein ganz eigenartiges Lachen – klar und deutlich, leer und freudlos. Ich blieb stehen. Es verstummte, aber nur für einen Augenblick. Dann setzte es erneut und diesmal lauter ein – denn beim ersten Mal war es zwar deutlich vernehmbar, aber doch recht leise gewesen. Es endete in einem schrillen Gelächter, das in all den einsamen Räumen widerzuhallen schien, obgleich es nur aus einem kam, und ich hätte die Tür des Zimmers zeigen können, aus dem die Töne drangen.
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