An die Reise kann ich mich kaum erinnern. Ich weiß nur, dass mir der Tag unnatürlich lang vorkam und ich das Gefühl hatte, als legten wir Hunderte von Meilen zurück. Wir kamen durch mehrere Städte, und in einer davon, einer sehr großen, hielt die Postkutsche: Die Pferde wurden ausgespannt, und die Fahrgäste stiegen aus, um Mittag zu essen. Ich wurde in einen Gasthof getragen, wo mich der Kondukteur dazu bewegen wollte, ebenfalls etwas zu mir zu nehmen. Da ich aber keinen Appetit verspürte, ließ er mich in einem riesigen Raum mit einem Kamin auf beiden Längsseiten allein zurück. Von der Decke hing ein Kronleuchter, und hoch oben an der Wand befand sich eine kleine rote Galerie mit lauter Musikinstrumenten. Hier wanderte ich lange umher, kam mir völlig fremd und verlassen vor und hatte schreckliche Angst, es könnte jemand kommen und mich entführen, denn ich glaubte an Kindesräuber und Seelenverkäufer, von deren Untaten in Bessies Kamingeschichten so oft die Rede war.
Endlich kam der Kondukteur wieder. Ich wurde erneut in der Kutsche verstaut, mein Beschützer kletterte auf seinen Sitz, blies in sein dumpf klingendes Horn, und mit lautem Klappern rollten wir über das »holprige Pflaster«von L–dahin.
Der Nachmittag brach feucht und etwas neblig an, und als er langsam der Dämmerung wich, wurde mir bewusst, dass wir wirklich schon sehr weit von Gateshead entfernt waren. Wir kamen durch keine Städte mehr, die Landschaft veränderte sich, und hohe graue Hügel erhoben sich ringsum am Horizont. Im letzten Zwielicht fuhren wir ein dichtbewaldetes Tal hinab, und als die Finsternis längst völlig undurchdringlich geworden war, hörte ich einen stürmischen Wind in den Baumkronen rauschen.
Das Geräusch lullte mich ein, und bald schlief ich tief und fest. Ich hatte noch nicht lange geschlummert, als mich das plötzliche Stillstehen der Kutsche wieder aufwachen ließ. Der Wagenschlag war offen, und eine Frau, die wie eine Dienstmagd aussah, stand davor; im Licht der Wagenlaternen konnte ich ihr Gesicht und ihre Kleidung erkennen.
»Ist hier ein kleines Mädchen namens Jane Eyre?«, fragte sie. Ich antwortete: »Ja« und wurde gleich darauf herausgehoben. Mein Koffer wurde heruntergereicht, und schon fuhr die Kutsche weiter.
Ich war steif vom langen Sitzen und vom Lärm und Schaukeln der Kutsche noch ganz benommen. Während ich allmählich wieder zu mir kam, blickte ich mich um. Regen, Wind und Dunkelheit ließen mich kaum etwas sehen; trotzdem entdeckte ich vor mir schemenhaft eine Mauer und darin eine offene Tür, durch die ich meiner neuen Führerin folgte. Sie machte sie hinter sich zu und schloss sie ab. Nun sah man ein Haus oder vielmehr mehrere Häuser – denn das Gebäude war weit verzweigt – mit vielen Fenstern, von denen einige erleuchtet waren. Wir gingen einen breiten, völlig durchweichten Kiesweg hinauf und wurden durch eine Tür eingelassen. Die Magd führte mich weiter durch einen Gang in einen Raum, in dem ein Kaminfeuer loderte, und ließ mich allein.
Ich stellte mich vor die knisternden Flammen und wärmte meine starren Finger. Dann blickte ich mich in dem Zimmer um. Es brannte keine Kerze, aber im flackernden Schein des Kaminfeuers konnte ich nach und nach tapezierte Wände, Teppiche, Vorhänge und glänzende Mahagonimöbel erkennen: es war ein Salon, nicht so geräumig oder prächtig wie der in Gateshead, aber doch recht behaglich. Ich zerbrach mir gerade den Kopf darüber, was ein an der Wand hängendes Bild darstellen mochte, als die Tür aufging und eine Frau mit einer Kerze in der Hand eintrat; eine zweite folgte ihr auf dem Fuße.
Bei der ersten handelte es sich um eine schlanke, großgewachsene Dame mit dunklem Haar, dunklen Augen und einer blassen, hohen Stirn. Ihr Körper war teilweise in einen Schal gehüllt, sie wirkte ernst und würdevoll und hielt sich sehr gerade.
»Das Kind ist noch recht jung, um allein hierhergeschickt zu werden«, sagte sie, während sie die Kerze auf dem Tisch abstellte. Ein, zwei Minuten betrachtete sie mich aufmerksam, dann fügte sie hinzu:
»Man sollte sie bald zu Bett bringen; sie sieht müde aus. Bist du müde?«, wandte sie sich an mich und legte mir dabei die Hand auf die Schulter.
»Ein wenig, Madame.«
»Und sicher auch hungrig. Sorgen Sie dafür, dass sie etwas zu essen bekommt, bevor sie zu Bett geht, Miss Miller. Ist es das erste Mal, dass du von deinen Eltern fort bist, um eine Schule zu besuchen, mein Kind?«
Ich erklärte ihr, dass ich keine Eltern mehr hatte. Sie fragte, wie lange sie schon tot seien, danach, wie alt ich sei, wie ich heiße, ob ich lesen, schreiben und ein wenig nähen könne; schließlich strich sie mir mit dem Zeigefinger sanft über die Wange, und mit der Bemerkung: »Ich hoffe, du wirst ein artiges Mädchen sein«, entließ sie mich zusammen mit Miss Miller.
Die Dame, die ich verlassen hatte, mochte etwa neunundzwanzig Jahre alt sein; die, die mich begleitete, schien ein paar Jahre jünger. Die Erstere hatte mich durch ihre Stimme, ihr Äußeres und ihr Auftreten beeindruckt; Miss Miller war alltäglicher: Sie hatte eine frische Gesichtsfarbe, wenngleich ihre Züge abgehärmt und von Sorgen gezeichnet waren; ihr Gang und ihre Bewegungen wirkten gehetzt wie bei jemanden, der stets eine Vielzahl von Aufgaben gleichzeitig zu erledigen hatte; sie sah wie eine Hilfslehrerin aus – was sie, wie ich später feststellte, auch tatsächlich war. Sie führte mich von Zimmer zu Zimmer und von Korridor zu Korridor durch ein großes, weit verzweigtes Gebäude, ehe ich schließlich nach der vollkommenen, beinahe bedrückenden Stille in dem Teil des Hauses, den wir bisher durchquert hatten, plötzlich das Summen vieler Stimmen vernahm. Gleich darauf betraten wir einen großen, langen Raum. An jedem Ende des Saales standen zwei große Holztische mit jeweils zwei Kerzen darauf, und darum herum saßen auf Bänken Mädchen aller Altersstufen – von neun oder zehn bis hinauf zu zwanzig Jahren. Im schwachen Kerzenschimmer schien mir ihre Zahl unermesslich, obwohl es in Wirklichkeit nicht mehr als achtzig waren. Sie trugen alle die gleichen altmodisch geschnittenen braunen Wollkleider und lange Leinenschürzen. Es war Arbeitsstunde; die Mädchen waren damit beschäftigt, ihr Pensum für den nächsten Tag zu lernen, und die vielen Stimmen, die im Flüsterton die Aufgaben repetierten, verschmolzen zu dem Summen, das ich gehört hatte.
Miss Miller wies mir einen Platz auf einer Bank nahe der Tür an. Dann ging sie durch den langen Saal und rief:
»Klassenaufseherinnen, sammelt die Bücher ein und bringt sie an ihren Platz!«
Vier große Mädchen erhoben sich an verschiedenen Tischen, gingen herum, sammelten die Bücher ein und legten sie beiseite. Dann erteilte Miss Miller ihnen einen neuen Befehl:
»Holt das Abendbrot!«
Die großen Mädchen gingen hinaus und kamen nach kurzer Zeit wieder zurück; jede trug ein Tablett mit vorbereiteten Portionen von irgendetwas – was es war, vermochte ich nicht zu erkennen. In der Mitte eines jeden Tabletts stand ein Krug mit Wasser und ein Becher. Die Portionen wurden ausgeteilt; wer wollte, nahm einen Schluck Wasser aus dem allen gemeinsamen Becher. Als die Reihe an mich kam, trank ich, denn ich war durstig, das Essen aber rührte ich nicht an: Vor Aufregung und Übermüdung war ich nicht imstande, auch nur einen Bissen zu mir zu nehmen, doch sah ich nun, dass es dünnen, in kleine Stücke geschnittenen Haferkuchen gab.
Nach der Mahlzeit las Miss Miller das Abendgebet, dann begaben sich die Mädchen in Zweierreihen klassenweise nach oben. Inzwischen war ich von Müdigkeit so übermannt, dass ich kaum noch wahrnahm, wie der Schlafsaal aussah – nur dass er, wie schon das Klassenzimmer, sehr lang war, fiel mir noch auf. In dieser ersten Nacht sollte ich mit Miss Miller das Bett teilen, und sie half mir beim Auskleiden. Als ich mich hingelegt hatte, wanderte mein Blick über die lange Reihe von Betten, die sich schnell mit jeweils zwei Mädchen füllten. Zehn Minuten später wurde das einzige Licht gelöscht, und umgeben von Stille und vollkommener Dunkelheit schlief ich ein.
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