1 ...8 9 10 12 13 14 ...40 Mrs. Reed sah von ihrer Arbeit auf; unsere Blicke trafen sich, und gleichzeitig hielten ihre Finger in ihren flinken Bewegungen inne.
»Verlass den Raum! Geh wieder ins Kinderzimmer zurück«, lautete ihr Befehl. Sie muss meinen Gesichtsausdruck oder sonst etwas an mir als feindselig oder beleidigend empfunden haben, denn aus ihrer Stimme klang nur mühsam unterdrückter Zorn. Ich stand auf; ich ging zur Tür; kam wieder zurück; durchquerte das Zimmer; trat kurz ans Fenster und stellte mich schließlich direkt vor sie hin.
Ich musste einfach sprechen: Man hatte mich übel behandelt, und ich musste endlich einmal zurückschlagen. Aber wie? Welche Möglichkeit hatte ich denn, um mich an meiner Widersacherin zu rächen? Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schleuderte ihr in schonungsloser Offenheit meine Meinung an den Kopf:
»Ich bin nicht falsch und verlogen. Wäre ich es, so würde ich behaupten, ich liebte Sie. Aber ich sage offen, dass ich Sie nicht liebe; ich verabscheue Sie mehr als irgendeinen anderen Menschen auf der Welt – ausgenommen John Reed. Und dieses Buch über die Lügnerin sollten Sie lieber Ihrer Tochter Georgiana geben, denn die lügt und nicht ich.«
Mrs. Reeds Hände lagen noch immer reglos auf ihrer Näharbeit, und auch ihr eisiger Blick war nach wie vor auf mich gerichtet.
»Hast du sonst noch etwas zu sagen?«, fragte sie in einem Ton, wie man ihn für gewöhnlich wohl eher einem erwachsenen Gegner als einem Kind gegenüber anschlägt.
Ihr Blick, ihre Stimme weckten in mir eine Abneigung, wie sie tiefer nicht hätte sein können. Von unbändiger Erregung ergriffen und am ganzen Körper zitternd fuhr ich fort:
»Ich bin froh, dass Sie nicht mit mir verwandt sind. Solange ich lebe, werde ich Sie nie wieder Tante nennen. Ich werde Sie nie besuchen kommen, wenn ich erwachsen bin; und sollte mich jemand fragen, ob ich Sie mag und wie Sie mich behandelt haben, so werde ich sagen, dass mir schon übel wird, wenn ich nur an Sie denke, und dass Sie mich mit erbärmlicher Grausamkeit behandelt haben.«
»Wie kannst du es wagen, so etwas zu behaupten, Jane Eyre?«
»Wie ich es wagen kann, Mrs. Reed? Wie ich es wagen kann? Weil es die Wahrheit ist. Sie glauben, ich habe keine Gefühle und kann ohne alle Zuneigung und Freundlichkeit auskommen. Aber ich kann so nicht leben, und Sie haben kein Mitleid. Bis an mein Lebensende werde ich nie vergessen, wie Sie mich in das Rote Zimmer zurückgestoßen – roh und grob zurückgestoßen – und mich wieder eingeschlossen haben, obwohl ich Todesqualen litt, obwohl ich vor Angst fast umkam und Sie unter Tränen anflehte: ›Haben Sie Erbarmen! Haben Sie Erbarmen, Tante Reed!‹ Und diese Bestrafung haben Sie mir auferlegt, weil Ihr niederträchtiger, missratener Sohn mich geschlagen hat – mich grundlos zu Boden geschlagen hat. Jedem, der mich fragt, werde ich das erzählen. Man hält Sie für eine gute Frau, aber Sie sind böse und hartherzig. Sie sind falsch und verlogen.«
Noch ehe ich mit meiner Antwort zu Ende war, wurde mir ganz leicht ums Herz. Ich verspürte ein seltsames Gefühl der Befreiung, des Triumphes, ein Frohlocken, wie ich es noch nie gekannt hatte. Mir war, als sei eine unsichtbare Kette zersprungen, als hätte ich nach langem, mühsamem Kampf unverhoffte Freiheit errungen. Und nicht ohne Grund war dieses Gefühl in mir erwacht, denn Mrs. Reed sah ganz erschrocken aus. Ihre Handarbeit war von ihrem Schoß auf den Boden geglitten; sie erhob die Hände, wiegte sich hin und her und verzog sogar das Gesicht, als wollte sie weinen.
»Du irrst dich, Jane. Was ist nur los mit dir? Warum zitterst du so? Möchtest du einen Schluck Wasser?«
»Nein, Mrs. Reed.«
»Möchtest du sonst irgendetwas, Jane? Ich versichere dir, ich möchte dir gern eine Freundin sein.«
»Sie? Niemals! Sie haben Mr. Brocklehurst gesagt, ich hätte einen schlechten Charakter, neigte zu Falschheit und Hinterlist; aber ich werde allen in Lowood erzählen, wie Sie sind und was Sie getan haben.«
»Das sind Dinge, die du nicht verstehst, Jane! Kinder müssen nun einmal für ihre Fehler getadelt und bestraft werden.«
»Ich bin aber nicht verlogen!«, stieß ich aufgebracht und schrill hervor.
»Aber du bist unbeherrscht und jähzornig, Jane, das musst du doch zugeben. Und jetzt, mein liebes Kind, geh ins Kinderzimmer zurück und leg dich ein wenig hin.«
»Ich bin nicht Ihr liebes Kind; und hinlegen kann ich mich jetzt nicht. Schicken Sie mich bald zur Schule, Mrs. Reed – ich hasse es, hier zu leben.«
»Ich werde sie wirklich bald zur Schule schicken!«, murmelte Mrs. Reed leise vor sich hin. Dann raffte sie ihr Nähzeug zusammen und verließ hastig das Zimmer.
Ich blieb allein zurück – als Siegerin. Es war die schwerste Schlacht gewesen, die ich je geschlagen, der erste Sieg, den ich errungen hatte. Eine Weile lang blieb ich auf dem Teppich stehen, dort, wo Mr. Brocklehurst gestanden hatte, und genoss meinen einsamen Triumph. Anfangs lächelte ich mir selbst zu und fühlte mich in gehobener Stimmung, doch dieses ungestüme Hochgefühl ließ ebenso rasch nach wie das beschleunigte Pochen meines Pulses. Ein Kind kann nicht mit Erwachsenen streiten, so wie ich es getan hatte; es kann nicht einfach, wie ich eben, seiner Wut freien Lauf lassen, ohne gleich darauf Gewissensbisse und beklemmende Ernüchterung zu empfinden. Ein brennender Bergrücken, auf dem die Flammen im trockenen Heidekraut stets neue Nahrung finden und helllodernd und unersättlich immer weiter um sich greifen, wäre ein treffendes Bild für meine Gemütsverfassung gewesen, in der ich Mrs. Reed anklagte und bedrohte; der gleiche Bergrücken nach Erlöschen des Feuers, schwarz und verkohlt, hätte ebenso treffend die Stimmung wiedergegeben, die sich meiner bemächtigte, als mir nach einer halben Stunde stillen Nachdenkens klar wurde, wie unsinnig ich mich betragen hatte und wie trostlos meine Lage war, umgeben von Menschen, die mich ebenso hassten wie ich sie.
Zum ersten Mal hatte ich ein wenig Rache gekostet. Wie würziger Wein war sie mir beim ersten Schluck erschienen, warm und anregend; ihr Nachgeschmack aber, metallisch und ätzend, ließ in mir ein Gefühl aufsteigen, als sei ich vergiftet worden. Am liebsten wäre ich jetzt zu Mrs. Reed gegangen und hätte sie um Verzeihung gebeten, doch teils aus Erfahrung, teils instinktiv wusste ich, dass sie mich dann nur mit doppelter Verachtung zurückgestoßen und damit erneut alle aufrührerischen Regungen in mir entfacht hätte.
Wie gern hätte ich bessere Fähigkeiten besessen als die Gabe, ungestüme und hitzige Reden zu führen, wie gern ein weniger grimmiges Gefühl in mir genährt als finstere Empörung! Ich nahm ein Buch zur Hand – es waren arabische Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Ich setzte mich hin und versuchte zu lesen, doch ich vermochte den Geschichten keinen Sinn abzugewinnen; meine eigenen Gedanken drängten sich immer wieder in den Vordergrund und ließen den Text, der mich sonst so fesselte, vor meinen Augen verschwimmen. Ich öffnete die Glastür, die vom Frühstückszimmer ins Freie führte: Draußen herrschte strenger Frost, den kein Sonnenstrahl, kein Luftzug milderte; Büsche und Sträucher lagen ruhig und friedlich vor mir. Ich bedeckte Kopf und Arme mit meinem Rock und ging hinaus, um in einem recht abgelegenen Teil des Gartens ein wenig spazieren zu gehen. Aber ich fand keine Freude an den stillen Bäumen, den fallenden Tannenzapfen, den erstarrten Überresten des Herbstes, diesen Haufen rotgelber Blätter, die der Wind vor dem Frosteinbruch aufgetürmt hatte und die nun steinhart gefroren waren. Ich lehnte mich an eine Pforte und blickte auf ein leeres Feld hinaus, auf dem keine Schafe mehr weideten und der Raureif die kurzen Grasstoppeln weiß gefärbt hatte und absterben ließ. Es war ein sehr grauer Tag. Über allem erstreckte sich ein düsterer Himmel, über den dunkle Schneewolken zogen. Hie und da fielen auch schon ein paar Flocken, die auf dem gefrorenen Weg und der weißschimmernden Wiese liegen blieben. Unglücklich und elend stand ich da, und immer wieder flüsterte ich verzweifelt vor mich hin: ›Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?‹
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