Auch in den Schweizer Alpen stänkert ein Giftzwerg. Ende August brennt die Sonne auf die Serpentinen, die Zunge klebt am Gaumen. Mit knallrotem Kopf bitte ich einen Restaurantchef um Leitungswasser. „Nee, so einfach ist das nicht. Da musst du auch was kaufen.“ Ich glaub, ich hör nicht recht? „Kannst ja da unten aus der Scheune was holen, da ist ein Hahn.“ Wieder bin ich feige, verlasse die Theke und trotte zur Scheune. Was der Giftzwerg nicht verriet: Das Wasser stammt aus einem Bach, der eine Weide entwässert. Den nächsten Pass müssen wir mit Durchfall hinauf.
Nicht minder kräftezehrend, wenn auch ohne Magendrücken: die Steppe Usbekistans. 42 Grad lähmen, schon morgens tropft der Schweiß von der Stirn ins Müsli. An einer Lehmhütte wollen wir nach ein paar Litern Wasser betteln, denn der Dorfbrunnen scheint längst versiegt. Wasser wird von Tankwagen geliefert. Kinder flitzen uns entgegen, die Mutter hinterher. Sie füllt die Trinkflaschen zum Überlaufen und drängt uns ins Haus. Schnell ist die Suppe angerichtet, dazu Brot, Obst auf Teller gestapelt. Nein, nur mit Wasser lässt man uns nicht fort: Ohne Mittagessen dürfen wir nicht weiter.
Noch trockener, noch leerer und armseliger ist das Altiplano, die Hochebene Boliviens. Das Land hängt am Tropf der Andengletscher, die unaufhaltsam schmelzen. Selbst große Städte drehen das Wasser ab. Männer und Frauen gehen auf die Barrikaden, blockieren die Straßen mit brennenden Reifen – und entführen gar Politiker im Kampf um das Kostbarste der Welt. In einem Laden für Alternativmedizin verkauft eine Indigene Vitamine, Bio-Kaffee, „glutenfreie“ Marmelade – und Schlagermusik. Wir brauchen agua potable , insgesamt sieben Liter Trinkwasser, und beschwingt zeigt sie auf den großen Wasserspender im Raum. „¿Cuánto cuesta?“, was es denn koste, frage ich, um sie beim Preisaufschlag zu mäßigen. „Es gratis“, lächelt die Verkäuferin. „Aber Sie haben das Wasser doch selbst gekauft?“ „Trotzdem, für Wasser verlange ich kein Geld.“
Unweit des Ladens passieren wir die Landesgrenze: Auch der Norden Argentiniens schreit nach H 2O, und wir vor Verzweiflung. „Die bekloppteste Piste der Welt“, das wäre mal ein Weltkulturerbe der UNESCO. Den Preis gewinnt die „Straße“ entlang der Salinas Grandes. Knöcheltiefer Schotter, Sand, fußballgroße Felsen und ein Wellblech, dass die Bandscheiben aus den Fächern springen. Auf gerader Ebene rattern wir mit fünf Kilometern pro Stunde, knapp hundert liegen vor uns. Mit Karacho schlage und trete ich gegen die Radtaschen. Die Wut entlädt sich anstandslos und ohne Scham. Daniel verflucht – zähneknirschend – die sandbeladenen Gegenwinde. Wir geben auf und wollen die Andenrunde abbrechen. Mutlos, kraftlos hocken wir im Dreck und warten auf nichts. Irgendwann braust ein Bus um die Kurve, hält an, spuckt gut gelaunte Touristen aus. Alles Engel, denn jeder von ihnen hält eine andere Gabe in der Hand. Der erste eine Gallone Wasser, die zweite Cola, die dritte Chips und der vierte eisgekühltes Bier – Halleluja! Dazu feuern sie uns an, mit Lob und Bewunderung, wir dürften nicht verzagen. Noch mehr Cola, noch mehr Chips. Als sie weiterfahren, sind Wille und Mut wieder zurück. Die geplante Runde ziehen wir durch.
SHARISABZ, USBEKISTAN
Nur mit Wasser lässt man die Gäste nicht ziehen
SALINAS GRANDES, ARGENTINIEN
Cola, Chips, Bier – Halleluja!
Wie viel kann ein Mensch ertragen? Aus Tom, dem das Leben die große Liebe und die eigene Gesundheit raubte, ist kein verbissener, jähzorniger Typ geworden. Er macht weiter – und schenkt uns Zuflucht.
Blaubeeren, Knusperflocken, Pfannkuchen, Orangensaft, Feigenmarmelade, Schoko-Donuts. Für Daniel brutzeln die Eier in der Pfanne, duftet der Schinken im Ofen. Dorothys Gastfreundschaft ist groß und vor allem großmütterlich: warm und üppig. Ich bin zutiefst gerührt, als ich am Morgen in ihre Küche strauchele, noch etwas angeschossen vom Weißwein des vergangenen Abends. Sie durchsucht die Schränke: „Ich versuche, mich in euch hineinzuversetzen. Was könntet ihr noch gebrauchen für unterwegs?“ Dorothy und John sind über 70, fit wie Turnschuhe und Mitglieder der Warmshowers -Gemeinschaft. Die Online-Plattform ähnelt dem Couchsurfing -Format, nur beherbergen die Einheimischen ausschließlich Reiseradler – die vor allem nach einer warm shower , einer heißen Dusche, gieren. Dorothy hatte einen Zeitungsartikel über die Gemeinschaft gelesen und sich sofort angemeldet, denn ihre Kinder und Enkel leben viele Flugstunden entfernt. „Ich backe euch noch schnell Brownies. Und bitte kommt im Sommer wieder, ihr könnt das ganze Haus für euch haben, wenn wir unsere Kinder besuchen!“ Während John zu seinem Stand im Einkaufszentrum eilt, um Mittel- und Ratlosen kostenfrei bei ihrer Steuererklärung zu helfen, machen Dorothy und ich es uns auf dem Sofa gemütlich. Auch sie engagiert sich, versorgt Obdachlose. Sie erzählt von Jeff, der immer wieder das Bewusstsein verlor, „without any warning“, und den sie eines Tages auf einer Bank sitzend fand. Kopf und Schulter verbunden, die Bandagen blutdurchtränkt. Jeff wusste gar nichts mehr. Weder woher er kam, noch wo er hingehörte – und auch nicht, was passiert war. Dorothy fand heraus: Ein Krankenhaus hatte ihn nur notdürftig behandelt und zurück auf die Straße gesetzt, denn Jeff war kein zahlender Kunde. Dorothy fängt an zu weinen. „An diesem Sonntagmorgen saß er blutverschmiert vor einer Bäckerei mitten im Stadtzentrum. Alle Welt lief an ihm vorbei. Was sind das für Menschen?“
Über 130.000 Mitglieder in 161 Ländern bereichern die Warmshowers -Gemeinschaft inzwischen. Einer davon ist Tom und lebt in einer Wüstenstadt Nevadas, in der sich 36.000 Einwohner die Fläche Berlins teilen. Wir stellen unser Zelt auf seinem Rasen auf, die Wasserknappheit macht Halt an der Stadtgrenze. Tom ist um die 60 und wirkt wie jemand, der mal ein schönes Leben hatte, bevor es weiterzog und ihn zurückließ. Er schließt die Haustür auf und es scheint, als seien nicht nur Daniel und ich die Gäste, sondern auch Tom nur zu Besuch. Mit Turnschuhen und Arbeitsstiefeln laufen wir über den Wohnzimmerteppich in die Küche. Es ist nicht schmutzig bei Tom, vieles wirkt eher unbenutzt, die Weingläser in der Vitrine, die Kerzen, der Ofen. Nur Dinge, die er täglich nutzt, liegen verstreut und griffbereit: Rechnungen, Toast, Fernbedienung. Der Kühlschrank, groß wie ein Wandschrank, ist dreiviertel leer, darin nur wenige Nahrungsmittel, die zusammen keine Mahlzeit ergeben: eine Gallone Milch, Hamburger-Patties, Pudding und Eiscreme. Wer Tom lächeln sieht, bemitleidet ihn. Zwei Zahnstummel lugen dann hervor. Wenn er spricht, klingt es, als baumele das Gebiss eines alten Mannes schief im Mund. Tom hustet oft und spuckt dabei dunkle Bröckchen aus. Er arbeitet 14 Stunden täglich, macht Spießergärten noch spießiger. Was er erzählt, klingt smart, stark und lustig – über das Radreisen, die Waffenläden der Stadt, über den Zuhälter, der jetzt Bürgermeister werden will. Doch es fällt mir schwer zu glauben, dass Tom, krank und vorgealtert, noch vor wenigen Jahren die Vereinigten Staaten auf dem Rad durchquerte. Das einzige Bild in seiner Wohnung zeigt seine Frau Lauren, die nach 45 Lebensjahren an Krebs verstarb. Für die Behandlung verkaufte Tom seine Waffensammlung mit antiken Stücken. „Ich habe Krebs, nicht der Krebs hat mich!“, behielt Lauren ihre Stärke bis zum Schluss. Doch Toms Leidensweg ging weiter. Vor einigen Jahren arbeitete er noch bei der Freiwilligen Feuerwehr. Damals hoben sie eine Drogenfabrik aus, in der vermutlich Crystal Meth gepanscht wurde. 20 Kollegen waren sie, nur zwei davon sind noch am Leben. Er und der andere versuchten, zu erfahren, mit welchen Substanzen sie in Kontakt kamen, die ihnen die Zähne ausfallen ließen und Lungen verätzten – vergeblich. Wie viel kann ein Mensch ertragen? Aus Tom, dem das Leben die große Liebe und die eigene Gesundheit raubte, ist kein verbissener, jähzorniger Typ geworden. Er macht weiter, und schenkt uns Zuflucht.
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