Daniels Pass: gestohlen, warnt der Computer. Warum, wissen wir nicht. Es ist Mitternacht und Interpol schläft. Kein anderer kann seine Unschuld versichern. Alles rauscht vorbei, Männer, Frauen. Polizisten hasten auf uns zu. Hier und jetzt ist Daniel ein Verbrecher. „Sit down. Shut up!“, bellt ein Bewaffneter – nur ein Dummkopf würde rebellieren.
Stunden kauern wir auf unseren Plätzen. Er eingeklemmt zwischen Wachmännern, ich bei unserem Gepäck. Zu müde, zu matt, um zu verzweifeln. Warten. Dösen. Warten. Irgendwann wird es draußen hell. Dann der Anruf: Interpol gibt grünes Licht, und die Polizei Daniel endlich, endlich frei.
Jetzt keine Zeit mehr vertrödeln. Zügig bauen wir die Räder zusammen und machen uns auf den ersten Metern mit der Autobahn vertraut. LKWs dröhnen, Busse knattern an uns vorbei, die Fahrer immer einen Finger an der Hupe. Ein Seitenstreifen schützt nichts weniger als unser Leben. Die Sonne knallt und der Gegenwind schmeckt nach Diesel. Bloß weg von hier, abfahren. Wir verfransen uns im Industrie-Irrgarten der Hauptstadt, nicht ganz das Ziel von Touristen. Keiner kann helfen. Kilometer für Kilometer fahren wir blind, orientierungslos. Es beginnt zu dämmern. Plötzlich hält ein verschrammter Renault und ein Mann mit Vokuhila kurbelt die Scheibe herunter. „My name is Navid. Need help?“ Navid: nie verheiratet, keine Kinder, einst Kioskbesitzer in New York. Er eskortiert uns zu seiner Wohnung mit schiefer Tür und geflickten Fenstern, öffnet den Kühlschrank und reicht Bier – Schmuggelware aus der Türkei, für acht Dollar die Flasche. Ein Segen, wenn auch ein verbotener in Iran. Als seine Eltern Hilfe brauchten, kehrte Navid nach Teheran zurück. Seine Schwester sei noch immer in den Staaten, wage sich aber wegen Trumps travel ban nicht mehr aus dem Land – aus Angst, nie wieder hinein zu dürfen. Wir sollten über Nacht bleiben, beharrt Navid und scheucht die Hühner aus dem Schlafzimmer. Am nächsten Morgen weist er uns den Weg aus dem Industrie-Wirrwarr. „Warum hast du uns geholfen?“, wollen wir wissen. „Allah hat mir einen Wink gegeben und gesagt: Da vorne, die Radfahrer brauchen Hilfe. Frag mal, was los ist.“
MIKE AUS RIDGECREST, KALIFORNIEN
HIER WIRD CLAUDIA UNSICHTBAR MOSCHEE IN GONBAD-E KAVUS, IRAN
GORGAN, IRAN
Ein knappes Jahr später, beim Erzfeind des Iran: in den USA. Kurz vor der Querung des Death Valley hält uns ein Sandsturm gefangen, in Ridgecrest, Kalifornien. Die Stadt scheint zu verrosten, Vernunft und Ekel verbieten das Kampieren zwischen Müllkippen, Fastfood-Buden und ausgezehrten Kötern. Wieder kurbeln wir orientierungslos, wieder dämmert es. Erst einmal einkaufen, es muss sich was ergeben! „Schau mal ein bisschen traurig und dumm“, instruiere ich Daniel, bevor ich mich im Supermarkt verlaufe. Und er macht seinen Job glänzend. Mike lädt uns in das Haus seiner Schwiegermutter ein. Die sei kürzlich verstorben, wir könnten so lange bleiben, wie wir wollten. Das Bett sei frisch bezogen und das Badezimmer vorgeheizt. „Bedient euch in der Vorratskammer, da stehen noch tonnenweise Pasta, Oliven, Dosenobst – und Bier.“ Mike und seine Frau Debby erzählen von ihrem Sohn – kurz nach dem 18. Geburtstag überrollt von einem LKW. Am Gottvertrauen halten sie sich bis heute fest. „Ich bin eigentlich gar nicht der Typ, der Fremde einlädt“, gesteht Mike. „Debby meinte, ich sei nun völlig verrückt.“ Warum er uns dann geholfen habe, wollen wir wissen. „Jesus hat mir einen Wink gegeben und gesagt: Da vorne, die Radfahrer brauchen Hilfe. Frag mal, was los ist.“
Zurück in Iran, zu Beginn der Reise: Ich trample auf Gardinenstoff und schwitze wie in einem Clownskostüm. Hier reicht das Kopftuch nicht, hier gängelt man mit einem Umhang. Schon am Eingangstor war eine Pförtnerin auf mich zugeeilt, den Stoff in der Hand. Sie hatte keine Gnade mit mir, auch nicht bei 36 Grad. Imam Rezas Schrein in Mashhad: Ein heiliger Ort, den ich heute am liebsten verwünschen würde. 20 Millionen pilgern jährlich hierher. Immer wieder auf den Umhang tretend, stolpere ich zur Taschenkontrolle. Ich muss aus meiner Wasserflasche trinken – die einfachste Sprengstoffprobe der Welt. Eine schwarz verschleierte Frau tastet mich ab. Woher ich käme, ob ich Kinder habe, fragt sie und streicht sanft meinen Tschador glatt. Sie meint es gut. Bevor ich hinaus darf, umfasst sie meine Hände: „Bitte, geh nach Hause und erzähle deiner Familie und all deinen Freunden, dass wir keine Terroristen sind.“
12.000 Radkilometer entfernt, wieder beim Rivalen, wieder in den USA: „We would like to further assist you in your journey“, mailt uns Rebecca, die uns ein Stück im Wohnwagen mitgenommen hatte. Zwei Tage spendieren sie und ihr Ehemann einen Campingplatz mit Swimmingpool: „Kids, sleep well. Tomorrow we gonna watch the sunrise.“ Mit ihren Söhnen hätten sie im Urlaub auch immer den Sonnenaufgang angesehen. Wir spielen das Spiel mit, sind gerne wieder Kinder: bemuttert, beschützt, zu Hause für den Moment. Zum Frühstück dürfen wir uns bergeweise Pancakes auf die Teller laden. Später ertappe ich Rebecca, wie sie 60 Dollar Taschengeld in meiner Radtasche versteckt. Beim Abschied tragen wir beide Sonnenbrillen – als Tränensichtschutz. Sie drückt mich und umfasst meine Hände: „Geht nach Hause und erzählt euren Familien und all euren Freunden, dass wir nicht so sind wie unser Präsident.“
REBECCA UND MARK | UTAH, USA
HINTERGRUND ISLAM
aus: „KulturSchock Islam“ von Susanne Thiel
In der heutigen islamisch geprägten Welt kommt „der Schleier“ als Kleidungsstück in vielen Formen und Varianten vor und wird auf unterschiedliche Art und Weise getragen. Der Nikab ist ein bodenlanges Gewand, das gleichzeitig auch Kopf und Gesicht bedeckt, nur ein Schlitz für die Augen bleibt frei. Der Tschador ist ein bodenlanger Umhang, der auch den Kopf bedeckt, aber das Gesicht freilässt. Der Hidschab ist ein Tuch, das die Haare, die Ohren und auch den Hals bedeckt. Die extremste Form, die Burka, ist ein sackartiger Überwurf, der den Körper von Kopf bis Fuß konturlos bedeckt und auch die Augen nicht frei lässt.
„Die bekloppteste Piste der Welt“, das wäre mal ein Weltkulturerbe der UNESCO. Den Preis gewinnt die „Straße“ entlang der Salinas Grandes.
Direkt aus der Fabrik sollen unsere Räder in die Welt hinaus – die erste Tour führt von Sachsen nach Thüringen. In einem Blumenladen bei Halle an der Saale entpuppt sich die Verkäuferin als Märchen-Protagonistin. Die „Schneekönigin“ kappt gerade Rosenstiele. Ich bitte sie um zwei Liter Leitungswasser. „Kaufen Sie’s doch im Supermarkt“, reagiert sie eisig und gießt jetzt die Blumen – mit Leitungswasser, klar. „Ich will aber keinen weiteren Plastikmüll produzieren“, wage ich zu erklären. „Na, das geht aber nicht. Wenn mich jeder danach fragen würde, wäre ich ja arm!“ Ich hoffe noch, die Furie scherzt, will ihr drei Cent über den Ladentisch schieben. Doch ihr Körper spannt sich vor Entrüstung und macht mir klar: Sie meint es ernst. Wortlos verlasse ich das Geschäft und ärgere mich über meine Feigheit. Noch heute. Was ich ihr nicht alles an den Kopf werfen möchte.
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