Man fand seine Leiche am Montag. Er war nicht zur Arbeit erschienen und hatte nicht auf Anrufe reagiert. Da er allgemein als zuverlässig galt, hatte man umgehend eine Untersuchung eingeleitet. Jetzt stand Dominik Venter vor dem Toten und war trotz allem, was er mittlerweile wusste, fassungslos. Ein unangenehmes Gefühl des Déjà-vu stellte sich ein.
Er hatte es nicht glauben wollen, auch wenn die Hinweise immer deutlicher geworden waren. Sperling selbst hatte längst keine Zweifel mehr gehabt – und nun war er tot. Vielleicht hatte er geahnt, was ihm bevorstand.
Venter verzog wütend das Gesicht. Er wusste, dass er es schaffen würde, irgendjemanden zur Verantwortung zu ziehen und wie selten zuvor spürte er die Unzulänglichkeit, die seiner Position anhaftete. Offiziell diente seine Organisation, die PAP, die Polizeiliche Aufklärung im Prekariat, der Ermittlung im ständig wachsenden Bereich der Unterschicht. Der Aufwand normaler Polizeikräfte galt dort seit Langem als Zuschussgeschäft. Die PAP hatte durch eine kompromisslose Reduktion von Personal und Mitteln Abhilfe geschaffen. Tatsächlich jedoch, das war ihm bereits vor vielen Jahren klar geworden, war die einzige Funktion, die seine Dienststelle besaß, die eines Feigenblattes.
›Polizei light … nein: extra light!‹, dachte er mürrisch. Die Ausstattung mit Mitteln und Kompetenzen entsprach diesem Bild im Übrigen aufs Deprimierendste. Die Resignation, die ihn seit einiger Zeit beherrschte, wich in diesem Moment kalter Wut. Sperling war tot, er hatte sein Engagement mit dem Leben bezahlt, und es gab viele andere, die für weniger gestorben waren.
Für sehr viel weniger!
Eine Woche davor …
Er spürte, wie das altbekannte Brennen seine Speiseröhre emporstieg. Dann bemerkte er den sauren, gleichzeitig bitteren Geschmack.
Venter schluckte. Ein eher instinktiver Versuch, das Sodbrennen schnell loszuwerden, der natürlich zum Scheitern verurteilt war. Die Folge dieser Erkenntnis war ein unwilliges Verziehen des Gesichts zu etwas, das einem Außenstehenden wie ein Grinsen erscheinen mochte.
»Nett hier, oder?«, erkundigte sich Kelber ironisch und warf bezeichnende Blicke in die Runde.
Venter antwortete nicht. Wieso auch? Sekundärkommissar Kelber schien auch nicht mit einer Reaktion gerechnet zu haben, denn er fuhr fort, sich mit den Habseligkeiten des Toten zu beschäftigen.
›Schon wieder einer!‹, schoss es Venter durch den Kopf. Er sah sich ebenfalls etwas genauer um. Was er sah, war deprimierend, aber keineswegs ungewöhnlich: Eine kleine, ungepflegte Wohnung, die Wände glänzten lackiert. So gut wie jeder freie Quadratzentimeter war mit OLEDs bedeckt, flexible Werbeflächen, aufgetragen wahrscheinlich mit einer billigen Spraydose.
Der kakofone Lärm der ablaufenden Dauerwerbesendungen zeichnete sich nicht so sehr durch seine Lautstärke aus, als vielmehr durch eine geradezu teuflische Penetranz. Lautstärke und Frequenz waren abgestimmt auf maximale Wirksamkeit bei gleichzeitig ausreichender Akzeptanz. Niemand konnte die Werbung ignorieren – bewusst oder unbewusst. Und doch erreichte sie nur selten ein Niveau, das den Empfänger empfindlich gestört hätte.
»Ausblenden!«, befahl Venter. Einer der Untersuchungstechniker kam der Aufforderung sofort nach. Ein Vertreter des Rumpfstaates zu sein, hatte eindeutig Vorteile. Ein normaler Bürger war nicht in der Lage, die vertraglich eingegangene Verpflichtung zum dauerhaften, individuellen Werbekonsum so einfach zu umgehen.
›Immerhin‹, dachte sich Venter, der ehemalige Bewohner hatte sich mit den Werbeabos und den damit verbundenen Einnahmen oder Vergünstigungen einen gewissen, wenn auch nicht gerade hohen Lebensstandard sichern können: Es gab einige Geräte, die das Minimalniveau überstiegen, darunter eine beinahe schon luxuriöse Espressomaschine.
Venter lächelte ironisch in sich hinein: ›Hauptsache, die Crema stimmt!‹
Er warf einen ersten Blick auf den Schreibtisch, oder das, was er dafür hielt.
Einige Ausdrucke lagen dort, ungeordnet, verschmiert mit irgendetwas Unsäglichem und mit gewaltigen Eselsohren.
»Schon gewählt?«, erkundigte sich Kelber beiläufig. Natürlich reagierte der interaktive iFLOW sofort und nutzte die Aufmerksamkeit des Teilnehmers.
iFLOW: WAHLAUFFORDERUNG
voteSTREAM:LEVEL1:ENTER:
CONSCIOUS:reaction delay: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Venter.Dominik.
ID 9990123-834747-XXX
PRIORITY:High:delay:VOTE reflexion necessary:delayed reaction: immidiate reaction blocked.
Politics:Parliamant.Local.
Download: selection list
VOTE:
Appendix: Ballot
Venter verzog das Gesicht. Natürlich hatte er bisher nicht gewählt – wie Kelber sehr gut wusste. Dennoch blendete er den Votestream erneut mit einem einfachen Fingertip aus. Der Personal-iFLOW-Server lenkte die Wahlaufforderung einmal mehr in die Warteschleife.
»Angenehm, wenn man’s wegdrücken kann, nicht?«, erkundigte sich Fredkowski, seines Zeichens Leiter der KTU-Gruppe. Venter grunzte nur und sah unter halb geschlossenen Augenlidern nach links, wo zwei jüngere Kollegen die üblichen Schattenkämpfe ausführten. Ein recht neues Phänomen unter denjenigen, die den iFLOW nicht mehr über die altmodische Hardwarebrücke am Handgelenk nutzten, sondern voll in das iFLOW-NET integriert waren. Ein Mediziner hatte die Erscheinung als »Übersprung- und Kompensationshandlung« bezeichnet.
»Und manche genießen das!«, knurrte Venter giftig.
Die beiden Angesprochenen nahmen den Kommentar nicht einmal zur Kenntnis, sondern fuhren fort, neben ihrer Tätigkeit ziellos in der Gegend herumzufuchteln. Ein bizarres Bild, das dem Kommissar Magendrücken verursachte. Diese Menschen hatten die Realität zu einem Gutteil verlassen und gegen eine hochaufgelöste Virtualität eingetauscht. Wanderer zwischen den Welten … und nie ganz bei der Sache.
Venter war mit einem Mal speiübel.
»Level X-low!«, murmelte Kelber leise und nahm vorsichtig einige Blätter in die Hand. »Name: Malik Perwane, neunundzwanzig Jahre alt. Ohne Beschäftigung, natürlich. Stufe V. Auf Jahre hinaus nicht vermittelbar. Migrationshintergrund in dritter Generation.«
Venter überflog die behördlichen Bescheide und fand seine Vermutung bestätigt. Unterstes Existenzniveau, ergänzt durch die Scheineinkommen aus den Dauerwerbeverträgen: Die Aufgabe jeglichen werbefreien Raumes in der privaten Umgebung war ein häufig angewandtes Mittel, den eigenen Unterhalt zu bestreiten. Er war sicher: Sogar Schlafzimmer, Toilette und Bad würden mit den Werbeflächen bedeckt sein und ohne Unterbrechung ihre Botschaften in die Welt plärren. Individualisiert, mit den Massedaten abgeglichen und so sehr auf die Wünsche der Person abgestimmt, dass Manipulation und freier Wille zu etwas Monströsem verschmolzen. Keine Chance, dem Marketingdruck zu entgehen: nicht im Wachen, nicht im Schlaf. Und allzu häufig als normale Sendung getarnt. Product-Placement auf höchstem Niveau.
› So still war es in dieser Wohnung seit vielen Jahren nicht mehr‹, dachte er. Das Brennen im Hals verstärkte sich. ›Noch kann man sich freikaufen, wenn man sich's leisten kann. Irgendwann wird auch das unmöglich sein.‹
Venters linkes Augenlid zuckte nervös, wenn er nur daran dachte, und begann leicht zu schwitzen. Verärgert strich er die Feuchtigkeit, die seine Stirn bedeckte, in seinen stark nach hinten verschobenen Haaransatz. Er wandte sich um und trat zu dem Toten, der beinahe in der Mitte des Raumes lag.
Nichts deutete auf ein Gewaltverbrechen hin. Der Tote selbst wirkte beinahe friedlich. Er beugte sich nach vorn. Der junge Pathologe blickte auf und sah den Kommissar ratlos an.
»Und, Sperling?«, fragte dieser. »Was haben Sie?«
Der Gerichtsmediziner räusperte sich. Man sah ihm an, wie unwohl er sich fühlte, dann erhob er sich. »Ich fürchte, das kann ich Ihnen einmal mehr nicht sagen, Kommissar!«
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