Der zweite Grund war, dass ich in Lynchburg seit dem Spätherbst mit einem Mitstudenten namens Robert Moss ausging, der anders war als alle Jungen, die ich bisher kennengelernt hatte. Seine Mutter war Engländerin, sein Vater Amerikaner. Er war groß und dünn, ruhig und zurückhaltend, hatte einen trockenen Humor, und er war im Besitz eines Regenschirms; all dies waren unamerikanische Züge, die mich faszinierten. Außerdem war er Mitglied der Crosslaufmannschaft, was für mich der Inbegriff der Romantik war. Er war der erste Mensch, dem ich die Geheimnisse meines Herzens offenbarte, auch meinen Wunsch, mich im Sport auszuzeichnen, was ein großes Wagnis war in dieser Ära der Geschlechterstereotypen. Robert hat meine Begeisterung nie abgewertet, nur weil ich ein Mädchen war, und ich hielt seinen erstaunlichen Sinn für Gleichwertigkeit unglücklicherweise für selbstverständlich.
Im Frühling waren wir dann ineinander verliebt und verbrachten viel freie Zeit, die wir in der Bücherei zum Lesen hätten nutzen sollen, unter einem Busch mit duftenden Blüten und tauschten bis zur Sperrstunde Zärtlichkeiten aus. Da ich die Freundin eines anderen war, schwebten wir in einem romantischen Nebel, wie es zu einer verbotenen Liebe gehört. Ich war verliebt, aber an Dave gebunden, oh, es war aussichtslos, bis Robert vorschlug, Dave sausen zu lassen. Was, und nicht zur June Week zu gehen? Unmöglich! Es war der falsche Vorschlag. Stur nahm ich an der June Week teil, und Robert, der mir vorwarf, ihm ein paar Ballkleider vorgezogen zu haben, weigerte sich ebenso stur, unsere Beziehung danach fortzusetzen. Wir blieben Freunde, aber ich habe Jahre gebraucht, wirklich über ihn hinwegzukommen.
Achtzehn Monate später, an einem regnerischen Nachmittag, waren die harten Grasflächen des Spielfelds, auf denen ich sonst lief, so matschig, dass ich beschloss, auf der Bahn des Sportplatzes zu laufen. Normalerweise lehnte ich Bahnläufe ab, weil ich es so langweilig fand, im Kreis herumzulaufen, aber auch deshalb, weil an einer Seite die Wohnheime der Jungen lagen. Als ich das letzte Mal dort gelaufen war, hingen ein paar blöde Kerle aus den Fenstern und sangen im Chor »Hüpf, hüpf, hüpf!« Aber an diesem Nachmittag regnete es so stark, dass ich trotzdem beschloss, dort zu laufen.
In der letzten Zeit hatte ich einige meiner Läufe mit einem schnellen Erstsemester namens Martha Newell absolviert. Marty und ich spielten Hockey zusammen, und dann liefen wir gemeinsam und beschlossen sogar, einer Organisation namens Amateur Athletic Union (AAU) beizutreten, die, wie man uns sagte, 880-Yards-Rennen (804,68 Meter) durchführte, die längste für Frauen erlaubte Distanz. Marty lief die respektable Zeit von 2:23 Minuten und war auch auf den kürzeren Strecken schnell. Meine Bestzeit auf 880 Yards waren 2:34 Minuten, und ich war frustriert, weil ich spürte, dass ich auf diesen kurzen Strecken kaum in Fahrt kam. Wir reisten zu ein paar Wettkämpfen nach Baltimore. Obwohl es sich, wie ich fand, kaum lohnte, irgendwohin zu fahren, nur um zwei Runden um einen Sportplatz zu laufen, war ich begeistert von dem Training mit Marty. Das Laufen machte mir so viel Spaß, dass ich mich darauf einstellte, Hockey und Basketball dafür aufzugeben. Laufen war etwas, was ich mit einer Freundin oder allein tun konnte, und zwar mein ganzes Leben lang. Dafür brauchte ich weder einen Trainer noch ein Team. Ich hatte eine Lösung für mein Dilemma gefunden.
Ich war mit meinen drei Meilen fast fertig, als ich bemerkte, dass der Bahntrainer der Männer, Aubrey Moon, nach draußen gekommen war und irgendwie einsam in seinem tropfenden Regenanzug am Rand der Bahn stand. Er hielt Stoppuhren in jeder Hand, deren Bändsel zwischen seinen Fingern baumelten. Aber es gab keine Läufer auf der Bahn, deren Zeit er nehmen könnte. Nach meiner letzten Runde rief er mich zu sich.
»Kannst du eine Meile laufen?« fragte er mich.
Leicht indigniert sagte ich: »Ich kann drei Meilen laufen.«
»Das ist gut. Denn ich habe in dieser Saison nur sechzehn Jungen auf der Bahn, und zwei davon sind 2-Meilen-Läufer, Mike Lannon und Jim Tiffany. Wenn du für uns eine Meile läufst, können wir noch mehr Punkte bekommen. Du musst nur ankommen. Mehr nicht.«
Er hätte auch seinen Cockerspaniel gebeten, wenn er ihn dazu hätte bringen können, vier Runden lang auf der Innenseite der Bahn zu laufen, nur um seine Punkte zu kriegen, aber es freute mich trotzdem, dass ich ihm und dem Team aus der Patsche helfen sollte. Es war keine große Sache. In Lynchburg wurde dem Bahnlauf sowieso keine große Aufmerksamkeit geschenkt.
»Sicher, Trainer, stellen Sie mich auf«, sagte ich lachend. Diesen klassischen Kinospruch wollte ich schon immer mal sagen können.
Lynchburg College war Mitglied in zwei Athletic Conferences (Sportligen). Die eine, Mason-Dixon Conference, verbot die Teilnahme von Frauen in männlichen Teams, die andere, die Dixie Conference, ließ sie zu. Die kommenden drei Wettkämpfe waren mit drei Colleges angesetzt, die Mitglieder der Dixie Conference waren. An diesen Rennen konnte ich also teilnehmen.
Am selben Abend noch rief ich meinen Freund Mike Lannon an und bat ihn um Rat. Denn noch nie war ich eine Meile unter Wettkampfbedingungen gelaufen. Ich glaube, Mike war der einzige Student, der als Läufer in Lynchburg so etwas wie ein Stipendium hatte. Er war ein sehr guter Läufer und wohnte im oberen Stockwerk der alten Turnhalle, was wahrscheinlich eine Art Gegenleistung in Form von Unterkunft war. Mike holte sich ein Stück Papier und sagte, seiner Meinung nach könne ich die Meile in sechs Minuten laufen, was bedeutete, eine Runde in neunzig Sekunden zu schaffen. Wichtig wäre, die erste Runde nicht schneller als neunzig Sekunden zu laufen, sonst würde mir die Luft ausgehen. Mike war sehr lebhaft, er machte mir Mut, ohne mich zu bevormunden. Wie sich beim Training in den kommenden Tagen zeigte, blinzelte mir kein Junge zu oder grinste vieldeutig. Das waren offensichtlich nicht die Kerle, die mir aus den Wohnheimfenstern hinterhergebrüllt hatten. Ich fühlte mich wohl.
Ein paar Tage später forderte Coach Moon auch Marty auf, am Wettkampf teilzunehmen. Sie sollte die 880 Yards laufen. Gott sei Dank musste ich das nicht! Da es keine Wettkampfhemden für uns gab, gingen wir in ein Sportgeschäft und kauften uns rot-weiße Oberteile, die einigermaßen zum Rot der Lynchburg College Hornets passten.
Es ist mir peinlich, das zuzugeben, aber in der Zeit war ich auch Teilnehmerin des Schönheitswettbewerbs Miss Lynchburg. Ich fand, dass alle Schönheitswettbewerbe nur dumm waren und sagte das auch eines Abends während des Essens zu meinen Freundinnen. Unter ihnen war auch meine Mitbewohnerin, Hockeymitspielerin und beste Freundin Ronette Taylor, die meine radikalen Ansichten über Frauenrechte teilte. Meine Freundinnen buhten mich aus, die Schönheitswettbewerbe hätten sich geändert, sie würden heutzutage Interviews beinhalten und die Beurteilung von Talent, außerdem könnte man Stipendien gewinnen, Reisen, schöne Kleider und ein paar Wochen lang ein nagelneues Auto fahren. Als wir wieder in unserem Zimmer waren, meinte Ronnie, ich wäre verrückt, mich nicht zu bewerben, ich hätte ebenso gute Chancen wie die anderen. Ich schätzte Ronnies Urteilsvermögen, und schließlich hatte ich diese Abendkleider! Also nahm ich am Wettbewerb teil.
Schönheitswettbewerb und Laufwettbewerb sollten am selben Tag stattfinden. Nach dem Lauf am Nachmittag würde ich duschen, mich umziehen und bereit sein für den Schönheitswettbewerb. Das hatte ich schon unzählige Male in der Highschool im College gemacht: Ich hatte Hockey gespielt oder Basketball, mich dann umgezogen und war dann »glamourös« zum Tanzen gegangen. Für mich war das nicht weiter ungewöhnlich. Die Medien, meine Mitschülerinnen und die Öffentlichkeit sahen das anders.
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