Als mein Freshman-Jahr zu Ende war, hatte ich es satt, ein dünnes kleines Mädchen zu sein. In einer der vielen Illustrierten meiner Mutter, die sich im Haus stapelten, fand ich einen faszinierenden Artikel über den Kaloriengehalt von Nahrungsmitteln. Die beiden Lebensmittel mit den meisten Kalorien waren Erdnussbutter und Schokolade, die man möglichst vormittags essen sollte, um leichter abzunehmen. Das leuchtete mir ein, und deshalb aß ich jeden Abend vor dem Schlafengehen ein Sandwich mit Erdnussbutter und trank ein großes Glas Kakao. In den nächsten zwölf Monaten nahm ich sieben Kilo zu und wuchs zehn Zentimeter. Ob mir die Erdnussbutter geholfen hat, in die Pubertät zu kommen, oder ob sich das Frausein sowieso anbahnte, werde ich nie erfahren, aber plötzlich war ich eine Frau. Ich werde nie den Gesichtsausdruck meines Vaters vergessen, der mich eines Tages musterte und dann ins Nebenzimmer ging, um sich mit meiner Mutter zu unterhalten. Ich bekam nur einen Teil ihres Gesprächs mit, nämlich seinen Satz: »Heiliger Strohsack, wann ist denn das passiert?«
Da ich jeden Tag lief, gewöhnte ich mich problemlos an meinen neuen Körper. Tatsächlich schien mir mein neues Gewicht mehr Kraft zu verleihen, und ich fügte Liegestütze und Kniebeugen zu meiner täglichen Routine hinzu. Mein Bruder sagte, die echten Profis würden Kniebeugen auf einem Bein machen, deshalb fing ich an, jeweils zehn Kniebeugen auf einem Bein zu üben, und hangelte mich an dem dicken Kletterseil hinauf, das mein Vater im hinteren Teil des Hofs für uns angebracht hatte.
Obwohl ich mich hingebungsvoll meiner Fitness widmete, war die Leidenschaft doch nicht groß genug, um mir eine Karriere als Leistungssportlerin zu wünschen. Erstens gab es eine derartige Möglichkeit überhaupt nicht, und zweitens sehnte ich mich gar nicht so sehr danach, wie beispielsweise die Tennisspielerin Billie Jean King es tat, die als Kind Profibasketballer werden wollte. Das wäre vielleicht anders gewesen, wenn es damals schon professionelle Läuferinnen gegeben hätte. Davon abgesehen strebte ich einen Beruf an, der meiner Ausbildung entsprach. Als ich aufwuchs, war man noch der Ansicht, dass Leute, die ihren Lebensunterhalt mit körperlicher Arbeit verdienten – und dazu gehörten nun mal Leistungssportler –, bemitleidenswert waren. Denn entweder hatten sie keine gute Ausbildung, oder sie waren nicht intelligent genug, um in leitenden Positionen zu arbeiten. Ich wollte Ausgewogenheit: Der Satz des Römers Juvenal, der vom mens sana in corpore sana sprach, kam mir sehr entgegen.
Und eine Römerin nahm mich gefangen. Mit großen Augen betrachtete ich die Statue der Jägerin Diana und genoss es, wie mein neuer Körper aussah, wie ich mich in ihm fühlte. Ich verglich mein nacktes Spiegelbild mit ihrer Statue und staunte über die Ähnlichkeit unserer Körper und – ja – unserer Geisteshaltung. Diana war athletisch, weiblich und selbstbewusst, und auch sie hatte kleine Brüste. So wurde sie zu meinem neuen Vorbild. Ich fühlte mich in meinem Körper so sicher wie sie sich in ihrem. Und als die Jungen in der Schule jetzt anfingen, mir nachzulaufen, war ich keine leichte Beute. Ich brauchte ihre Aufmerksamkeit für mein Selbstwertgefühl nicht. Obwohl es in der Schule keinen Sexualkundeunterricht gab, vermittelte mir das Laufen körperliches Selbstvertrauen genug, um die kleinen Langweiler auszubremsen.
Vielleicht klingt es abwegig, dass ich mir eine Göttin der römischen Antike zum Vorbild wählte, tatsächlich aber gab es bis zu den Olympischen Spielen im Jahr 1960 für mich keine modernen sportlichen Vorbilder. Doch trotz der anmutigen Bilder von Wilma Rudolf, der Siegerin in den Sprintwettkämpfen, werde ich nie die abstoßenden Fotos der sowjetischen Kugelstoßerin Tamara Press vergessen, die sie mit Armen wie Schinkenschlegel, einer schwabbeligen Rolle in der Taille und mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht zeigen. War das der Inbegriff einer weiblichen Athletin? Ich kann mir vorstellen, dass solche Bilder viele Tausend Leserinnen der Illustrierten Life entmutigten und junge Mädchen dem Sport für ewig abschwören ließen.
Damals erfuhr ich es nicht, aber die Olympischen Spiele in Rom boten noch einen weiteren Reibungspunkt für die Wahrnehmung weiblicher Kraft im Sport. Zum ersten Mal seit zweiunddreißig Jahren gab es bei den Spielen einen 800-Meter-Lauf für Frauen. Bei den Spielen in der Antike war Frauen allein schon das Zusehen unter Androhung der Todesstrafe verboten, und im Jahr 1896 wurden sie von der Teilnahme an den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit ausgeschlossen. Nach massiven Protesten ließ man Frauen 1900 für die Sportarten Golf, Tennis und Krocket zu. 1928 kam die Leichtathletik hinzu. Längster Lauf war der 800-Meter-Lauf (zwei Runden auf der Bahn), und nachdem sich die ersten drei Frauen eine erbitterte Schlacht um den Sieg geliefert hatten und Lina Radtke einen neuen Weltrekord aufgestellt hatte, taumelten die Teilnehmerinnen keuchend in den Innenkreis des Stadions, so wie jeder Mensch, der so schnell wie möglich 800 Meter läuft. Diese »Zurschaustellung von Erschöpfung« entsetzte die Zuschauer, die Veranstalter und – das war das Schlimmste – die Medien. Harold Abraham, der Respekt einflößende Olympiasieger, inzwischen Sportjournalist, dessen große Leistungen später in dem Film Die Stunde des Siegers gewürdigt werden sollten, nannte die öffentliche Zurschaustellung von Erschöpfung eine »Schande für die Weiblichkeit« und eine »Gefahr für alle Frauen«. Er empfahl, diese Strecke für künftige Veranstaltungen zu streichen. Und so geschah es.
In den kommenden zweiunddreißig Jahres mussten Frauen, die längere Distanzen als die Sprintstrecken liefen, immer wieder beweisen, dass sie weder zu schwach noch zu zart dafür waren, weder sich selbst gefährdeten noch der Weiblichkeit Schaden zufügten. Während für die Männer die 1.500 Meter, 3.000 Meter Hürden, 5.000 und 10.000 Meter und der Marathon (26,2 Meilen beziehungsweise 42,195 Kilometer) hinzukamen, wurde jeder längere Lauf für Frauen weiterhin als gefährlich bezeichnet. Es war ein schwerer Kampf, für die Olympiade 1960 die 800 Meter für Frauen durchzusetzen, und jeder Gedanke an eine noch längere Strecke löste eine heftige Kontroverse in den Medien aus.
Damals wurden viele andere Sportarten für Frauen abgeändert, um sie davor zu bewahren, sich selbst Schaden zuzufügen. Interessanterweise blieb das harte Feldhockey unangetastet, nicht aber Basketball: Schon in den Sechzigerjahren spielten Mädchen eine Basketballversion, die das Laufpensum reduzierte, indem sechs Spielerinnen eingesetzt wurden, die nur dreimal dribbeln und die Mittellinie nicht übertreten durften. Als ich die Trainerin des Mädchenteams für unsere Schülerzeitung interviewte und fragte, ob wir je nach denselben Spielregeln wie die Männer würden spielen dürfen, sagte sie: »Niemals.« Das viele Springen könnte die Gebärmutter verrutschen lassen. Ich hätte fast laut losgelacht. Zehn Jahre später erhielten Mädchen an Universitäten Vollstipendien, um dort in einer der ältesten Universitätssportligen nach »Männerspielregeln« Basketball zu spielen.
Im zweiten Jahr in der Oberstufe hatte ich einen Freund, Dave, und ich besuchte eine neue Schule, die George C. Marshall High School in Falls Church, Virginia. Mit Dave hatte ich eine gute Zeit. Er war Mittelstürmer in der Footballmannschaft, und da sein Dad den gleichen Offiziersrang in der Navy innehatte wie mein Dad in der Armee, hatten wir viel gemeinsam. Jeden Freitagabend nach dem Footballspiel kamen Dave und sein Freund Larry müde, glücklich, zerschunden und angeschlagen zu mir nach Hause, wir machten uns eine Pizza und besprachen das Spiel. Oft berichtete ich von meinen Erfahrungen beim Hockey oder Basketball, und sie nahmen mich und meinen Sport immer ernst. Wir prahlten damit, wer mehr Liegestütze konnte, aber sie staunten jedes Mal, dass ich mehr Sit-ups und Kniebeugen schaffte als sie. Ich lebte für den alljährlich stattfindenden President’s Council of Physical Fitness and Sports Fitness, wo auch getestet wurde, wie viele Sit-ups wir in der Minute schafften (ich schlug Dave und Larry mit dreiundsechzig in der Minute) und wie schnell wir auf der 600-Yards-Strecke (548,64 Meter) waren. Ich war das schnellste Mädchen, aber nicht so schnell wie Dave und Larry, was mich ärgerte. Eines Abends provozierte ich sie mit der Frage, bis zu welcher Grenze sie Kraftanstrengungen bei Frauen akzeptieren würden. Sie taten sich schwer mit der Definition, aber schließlich einigten sie sich darauf, dass sie es nicht mochten, wenn Frauen trainierten, bis ihr T-Shirt am Rücken durchgeschwitzt war. Ich nahm das ohne ein Gefühl von Zustimmung oder Ablehnung auf, ich behielt es lediglich als eine interessante Beobachtung im Gedächtnis. Ich selbst schwitzte nicht sehr beim Sport. Noch nicht.
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