Tariq schloss die Augen atmete einmal tief durch. "Das werden wir sehen." Ein entschlossener Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. "Solange Zeit ist, tue ich, was ich tun kann." Mit diesen Worten zog er sein Jackett aus und warf es über den neben ihm stehenden Hocker. "Darf ich dein Labor nutzen?" Und nach Issams Nicken krempelte er die Hemdsärmel auf und marschierte in Richtung Treppe.
Der Arzt folgte ihm und Tanyel - noch immer die Plastikflaschen umklammernd - sah den beiden nach.
Mittwoch, 15:30 Uhr
Mit einem Schmerzenslaut rieb sich Trajan die geprellte Hand und unterdrückte einen Fluch, während er irgendwo hinter sich seinen Übungsrevolver außerhalb der Matte auf den Boden der Trainingshalle scheppern hörte. Senads gut gezielter Tritt hatte ihm die Waffe aus der Hand geschmettert und sie in hohem Bogen davonfliegen lassen.
Was war bloß los mit ihm? Wo hatte er seine Augen, wo war seine Konzentration? Er hatte Senads Fuß einfach nicht kommen sehen. Wie konnte der so schnell sein?
Ein Blick auf Sadik, der wie immer mit vor der Brust verschränkten Armen ihren Kampf beobachtet hatte, zeigte, dass der Ausbilder missbilligend die Stirn runzelte.
"Du bist entwaffnet, Trajan. Setz dich auf die Bank. Gut gemacht, Senad."
Der Nahkampftrainer nickte dem Älteren zufrieden zu und winkte als nächstes Trainingspaar Hennak und - nach einem prüfenden Blick auf Shujaa - Rhea herbei. "Zwei Nahkämpfer jetzt. Rhea, du musst unbedingt besser darauf achten, dass dich deine Waffe im Nahkampf nicht behindert. Wenn du sie aus Platzgründen nicht einsetzen kannst, dann leg sie auf den Boden, aber entferne dich niemals zu weit von ihr. Das war dir beim letzten Mal zum Verhängnis geworden."
Während Trajan verärgert nach hinten ging, um seine eigene Waffe aufzusammeln, stand Rhea auf und fasste ihren Kampfstab entschlossen mit beiden Händen. Tief durchatmend richtete sie ihren Blick auf Hennak, der ihr nun gegenüberstand und mit einem lässigen Grinsen seinen Übungsschlagstock einige Male in die offene Handfläche klatschen ließ.
Trajan sah es. Doch er war sicher, dass sich Rhea von dem überlegen wirkenden Gebaren nicht beeindrucken lassen würde. Der Trainer kannte seine Leute, hatte deren Eigenheiten und Stärken in den unzähligen Trainingsstunden genauestens analysiert. Und Rhea mit ihrer ungewöhnlichen Waffe konnte es Hennak, der auf die Kraft seiner Hiebe setzte, durchaus schwermachen, weil sie ruhiger und konzentrierter, schneller und wendiger war als er. Die beiden bildeten ein gutes Trainingspaar. Während dieser Gedanken war Trajan zurück an seinen Platz gekommen und setzte sich wieder.
"Trajan?"
Er erstarrte förmlich und lauschte. Die Stimme in seinem Kopf war so deutlich, als würde Ahmad direkt neben ihm stehen.
"Ich höre dich. Was ist los?"
"Ist Yonas bei dir?"
Er schaute unwillkürlich kurz zu dem Jungen hinüber, der nur zwei Plätze weiter auf der Bank saß.
"Er ist hier."
"Pass auf ihn auf."
"Auf ihn ... Was meinst du? Hier beim Training? Wer sollte denn …"
Ahmad ließ ihn nicht ausreden. Seine ungleich stärkeren telepathischen Kräfte fegten Trajans Worte einfach zur Seite und verursachten einen unangenehmen Druck in dessen Schädel. "Es ist wichtig", unterbrach er den Satz. "Lass ihn möglichst nicht aus den Augen."
Yonas, der seinen Blick aufgefangen hatte, beobachtete ihn aufmerksam. Trajans angespannter Gesichtsausdruck und die geschlossenen Augen ließen den Jüngeren ahnen, dass dieser entweder gerade in jemandes Gedanken eintauchte oder telepathisch kommunizierte. Viele andere Möglichkeiten gab es dafür nicht.
Schnell tauschte er mit Shujaa den Platz. "Ist Ahmad wieder wach?", flüsterte er nun seinem Nebenmann zu. "Was will er denn?"
Trajan schüttelte nur den Kopf und bedeutete Yonas mit der Hand sich zu gedulden.
"Keine Sorge, ich bleib in seiner Nähe. Aber ich kann ihn nicht rund um die Uhr beobachten. Das wird doch auffallen. Wie stellst du dir das vor?"
"Dann such dir Helfer."
"Okay, ich schau mal, was ich machen kann. Aber nur bis du wieder auf dem Damm bist, das sage ich dir. Also sieh zu, dass du schnell auf die Beine kommst." Es sollte scherzhaft klingen, doch seine Gedanken-Stimme gehorchte Trajan nicht. Ahmads Bitte verursachte ein beklemmendes Gefühl. Das klang wirklich ernst.
Was konnte das sein, was der Kamerad befürchtete? War Yonas etwa immer noch in Gefahr? Glaubte er, die Entführung könnte noch einmal passieren?
"Sag mir, worauf ich achten muss!", verlangte er deshalb und musterte dabei verstohlen den Blondschopf an seiner Seite. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendetwas an ihm in der Lage war, dem schwarzen Guardian Sorge zu bereiten.
"Was ist denn los?", flüsterte es neben ihm jetzt drängend.
Trajan hob noch einmal beschwichtigend die Hand. "Gleich, warte kurz", antwortete er leise.
"Er ist in Gefahr und er ist selbst eine Gefahr", hörte er Ahmads Stimme nun erneut, leiser und matter als vorhin, "und er weiß nichts davon."
"Wieso?", entgegnete Trajan verblüfft. "Erklär es mir."
Keine Antwort.
"Ahmad?"
Es blieb still in seinem Kopf. Ein wenig unbehaglich schaute Trajan seinen Sitznachbarn erneut an. Yonas sollte gefährlich sein? Niemand wirkte so unschuldig wie dieser sechzehnjährige Junge.
Doch Ahmad würde ihm nicht ohne Grund auftragen ihn nicht aus den Augen zu lassen. Dummerweise war er nicht mehr dazu gekommen, es zu erklären. Und deshalb wusste Trajan immer noch nicht, warum ihm das so wichtig war.
Eine Stunde später saß er wieder an Ahmads Bett und musterte den schlafenden Kameraden. Dunkle Schatten lagen unter den geschlossenen Augen, die das Gesicht noch blasser wirken ließen, und auf seiner Stirn waren winzige Schweißperlen.
Erschrocken fuhr Trajan zusammen, als sich Yonas wieder neben ihm auf den zweiten Stuhl schob. Ein verhaltenes Grinsen huschte über sein Gesicht. Er hätte es wissen müssen, dass der Jüngere zurückkommen würde. Alle anderen hatten das Besuchsverbot widerspruchslos hingenommen.
Doch der erwiderte das Grinsen nicht. "Ist er wach?", formten seine Lippen stattdessen die lautlose Frage, während er mit dem Finger auf Ahmad deutete.
Trajan schüttelte den Kopf.
Für eine Weile hing jeder von ihnen seinen eigenen Gedanken nach. Trajan fragte sich, wann er nun erfahren würde, warum er Yonas beobachten sollte.
"Hast du gewusst, dass der Chef genau wie Ahmad Energiegeschosse bilden kann?", flüsterte der jetzt leise, um das bedrückende Schweigen zu beenden.
Trajan starrte ihn entgeistert an. "Was, Tariq?!", entfuhr es ihm verblüfft.
Yonas nickte bestätigend. "Und dass Ahmad und er einen Schild entstehen lassen können, um Energiegeschosse abzuwehren?"
"Echt?" Jetzt schüttelte Trajan ungläubig den Kopf. "Hast du es gesehen?"
Der Jüngere nickte. "Beide machten mit dem linken Arm einfach nur eine fließende Bewegung und paff - war er da. Etwa so." Yonas schwang den ausgestreckten Arm in einer lässigen Kreisbewegung vor sich, während er sich mit einem Seitenblick vergewisserte, dass Trajan zusah. "Und dann die Energiegeschosse!", fuhr er fort. "Erst blaue von Ahmad und schwarze von dem ... von Rayan, dann silberne von Tariq. Beim Aufprallen an der Wand hinterlassen die solche großen Löcher und spritzende Steinsplitter."
Er hielt Trajan die geballte Faust vor die Nase, um die Größe zu verdeutlichen. "Ich möchte wirklich nicht wissen, was sie anrichten, wenn sie auf einen menschlichen Körper treffen." Schaudernd zog er die Schultern hoch. "Der Lärm war unbeschreiblich und die Luft war mit Energie so aufgeladen, dass mir buchstäblich die Haare zu Berge standen."
Er griff mit beiden Händen in seinen dichten, blonden Schopf, als wäre der Effekt jetzt noch spürbar.
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