Welche Auswirkungen hat denn ein permanentes Ignorieren und Schönreden? Das Wegschieben der Realität, die Betroffene einfach nicht wahrhaben wollen? Dieses Verhalten kostet Kraft. Und zwar jede Menge. Denn hier versuchen wir, etwas aufrechtzuerhalten, was es nicht mehr gibt.
Zusätzlich zum Ausblenden der Realität lauert noch eine weitere Gefahr, die in einer Krise einen unheimlichen Kräfteverlust birgt. Die Frage nach dem Warum: Warum hatte ich diesen schrecklichen Verkehrsunfall? Warum nur ist mein Mann so schwer erkrankt? Warum habe ich meinen Job verloren und nicht der Kollege ohne Familie? Warum ist unsere Beziehung gescheitert, obwohl jahrelang alles gut lief? Wieso nur muss mir das passieren? Was habe ich getan, dass das Leben mir so viel abverlangt?
Es ist ganz natürlich, dass diese Fragen anfangs gestellt werden. Sie schaffen eine gewisse Erleichterung und jeder Betroffene kennt sie. Trotzdem ist es wichtig, nicht an diesen Sätzen hängen zu bleiben. Denn die Situation ändert sich dadurch nicht. Ganz im Gegenteil. Gelöst hat diese Fragen kaum einer. Es gibt oft keine Antworten, so sehr wir auch danach suchen. Und selbst wenn sich eine Erklärung findet, hilft das trotzdem nicht weiter. Ändert sich denn die Lage für einen gekündigten Arbeitnehmer, wenn er die Beweggründe seines früheren Chefs genau nachvollziehen kann? Schlichtweg nein. Er ist und bleibt arbeitslos und muss sich einen neuen Job suchen.
Sich gegen die Krisensituation aufzulehnen, sie zu ignorieren, anzuzweifeln, zu hadern oder sich Dinge schönzureden ist eine absolut normale Erstreaktion, die der Schock des Schicksalsschlags mit sich bringt. Doch diese Verhaltensweisen führen nicht weiter. Dabei ist das Vorankommen in einer Krise unheimlich wichtig. Und dafür braucht es Kraft!
Die Welt dreht sich von einer Minute auf die andere für Betroffene und Nahestehende völlig anders. Den Tagesablauf von gestern gibt es nicht mehr. Von heute auf morgen gibt es neue Wege, die vor einem liegen und enorme Herausforderungen bergen, die der Einzelne kaum bewältigen kann: Ein Arbeitsloser muss die Schwelle zum Arbeitsamt übertreten. Weder Gebäude noch Menschen sind ihm vertraut, und dieser Schritt kostet jede Menge Überwindung. Gleichzeitig ist die Sorge um die eigene Existenz ungeheuer groß. Selbst der Anruf bei einem Anwalt fällt getrennt lebenden Ehepartnern schwer, denn schon der Griff zum Hörer bedeutet, eine Trennung offiziell voranzutreiben. Und auch der Weg in ein Krankenhaus ist nicht einfach, wenn eine monatelange Therapie auf dem Plan steht und die Klinik nicht, wie bisher nach einer ambulanten Behandlung, am gleichen Tag wieder verlassen werden kann. Allein die Sorge um die eigene Gesundheit beschäftigt dabei immens, doch auch die Situation mit dem Arbeitsplatz oder Fragen innerhalb der Familie müssen für diese Zeit neu gelöst werden.
Der Weg ist hart und kostet viel Energie. Doch Kraft ist vorhanden. Wir müssen sie nur an der richtigen Stelle nutzen, anstatt auf falsche Strategien wie Ignorieren oder Hadern zu setzen.
Ja, es ist ein Albtraum
„Andi, du hast Krebs, nicht irgendeine Blinddarmentzündung, die jeder Chirurg in Deutschland behandeln kann. Nein, Lymphknotenkrebs. Und deshalb gehen wir natürlich nach Freiburg. Auch wenn das für uns alle ein paar Umstände mehr bedeutet.“ Meine Stimme ist aufgebracht und ich sitze senkrecht auf der vorderen Kante des Sofas im Wohnzimmer. Seit Tagen machen wir uns Sorgen, wie es weitergehen soll. Die erste Chemotherapie hat zu keinem positiven Ergebnis geführt. Der letzte Befund war ein weiterer Schock. Doch soeben öffnet sich erstmals ein kleines vielversprechendes Türchen. Das Zögern meines Mannes kann ich deshalb nicht nachvollziehen. Er steht immer noch unschlüssig mit dem Telefon in der Hand vor mir.
Vor ein paar Minuten hat er das Telefonat mit einem Hämatologen der Freiburger Universitätsklinik beendet. Der Arzt ist Leiter der Studie, nach der Andis weitere Behandlung erfolgen soll. Er bot Andi an, ihn direkt vor Ort zu therapieren. Die andere Möglichkeit ist ein Krankenhaus in Stuttgart, das jedoch immer in Absprache mit Freiburg agieren müsste. Und dass solche Rückfragen sehr viel Zeit kosten können, hat Andi in den letzten Tagen zur Genüge erfahren. Doch meine Argumente scheinen an ihm abzuprallen. In sich zusammengesunken sitzt er auf einem Hocker und starrt auf den Boden.
Nun mischt sich auch meine Schwiegermutter ein, die unser Gespräch bisher schweigend verfolgt hat und bringt das Ganze auf den Punkt: „Andreas, in dieser Situation geht man nicht zum Schmidtchen, sondern zum Schmidt.“ Die Redewendung ist neu für uns beide und bringt uns trotz des Ernstes der Lage zum Lachen. Selbst Svenja quietscht mit und freut sich über den scheinbaren Stimmungswechsel. Andis Mutter hat vollkommen recht. Der Schritt muss erfolgen, egal was das für einen Kraftakt für alle Beteiligten nach sich zieht. Doch die Entscheidung liegt allein bei Andi.
Es half alles nichts – kein Jammern, kein Klagen, kein Ignorieren, kein Schönreden. Wir mussten der Realität ins Auge sehen. Vor allem Andi. Er stand aufgrund der erfolglosen ersten Therapie zu diesem Zeitpunkt mehr unter Schock als nach der Krebsdiagnose am Anfang. Die Lage war brenzlig. Unsere Angst grenzenlos. Ein Albtraum. Doch Andi stellte sich ihm. Er ließ sich überzeugen und leitete selber noch am gleichen Tag die Aufnahme in Freiburg in die Wege. Diesen Schritt bereute er nicht einen einzigen Tag. Ganz im Gegenteil. Er hatte das Gefühl, alles versucht zu haben.
Was genau bewirkt es, wenn die Bedrohung, der Verlust, der Schmerz oder die Veränderung in einer Krise wahrgenommen werden? Zumindest das Ignorieren und Verweigern hat ein Ende. Aber was genau bringt das? Welchen Vorteil? Durch das Ende der Verweigerungstaktik werden Kräfte frei, die bisher genau dafür benötigt wurden. Wir haben schlicht und einfach mehr Kraft zur Verfügung. Und diese können wir nutzen. Denn in der akuten Krisensituation benötigen wir davon besonders viel zum Weitermachen.
Übertragen auf die Situation des schwer verletzten Unfallopfers bedeutet das: Wird er immer weiter ignorieren, dass seine Beine nicht mehr in der Lage sind, ihn zu tragen, verweigert er auch den Rollstuhl? Lässt er aber den Gedanken zu, dass der Rollstuhl nun einen Gehersatz darstellt, der es ihm ermöglicht, sich wieder ohne Hilfe von anderen Personen zu bewegen, kommt er auch tatsächlich vorwärts. Er kann seine Kraft, die er bisher immer für den Gedanken – ich werde bald wieder laufen können – verbraucht hat, in Energie für das Annehmen des Rollstuhls umwandeln.
Und ähnlich verhält es sich auch mit den oben genannten Warum-Fragen. Sie verbrauchen zu viel Kraft. Dem Verletzten passiert das beispielsweise bei folgenden Sätzen: Warum bin ich nur so schnell gefahren? Warum hat der andere Autofahrer nicht richtig aufgepasst? Warum bin ich an dem Morgen nicht eine halbe Stunde später gestartet? … Diese Fragen helfen nicht weiter. Sie lassen sich nicht lösen. Und selbst wenn, bleiben seine Beine geschädigt. Es ist nicht die Frage nach dem Warum, die einen weiterbringt, sondern die Frage nach dem: Was ist jetzt zu tun? Oder: Wie schütze ich mich, wie wappne ich mich für die nächste Zeit?
Ich sage nicht, dass diese Strategie einfach zu bewältigen ist. Ganz und gar nicht. Denn einen Schicksalsschlag wahrzunehmen, heißt ja noch lange nicht, dass Ängste, Verzweiflung und Sorgen verpuffen. Doch allein das Hinsehen ermöglicht eine Vorwärtsbewegung, während das Verleugnen der Realität genauso wie die Fragen nach dem Warum in die Irre führen.
Bei der Recherche zu diesem Buch habe ich gelernt, dass auch der Vogel Strauß schlauer ist als sein Ruf. Obwohl sich das Gerücht über ihn stetig hält, steckt keines dieser Tiere seinen Kopf tatsächlich in den Sand. Im Gegenteil: Sie sehen ihren Feinden ins Gesicht, auch wenn sie sich manchmal hinlegen und den Hals senken, um für andere Tiere nicht gleich erkennbar zu sein. Würden sie den Kopf in den Sand stecken, hätten sie niemals eine Chance zur Flucht und wären jedem Raubtier sofort als Opfer ausgeliefert. Hinzusehen hilft also auch dem Vogel Strauß. Wie richtet ein Betroffener in einer Krise nun aber Schritt für Schritt den Blick auf die Realität, um dem Schicksal in die Augen zu sehen?
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