Mein Cottbus
Sprem, Cottbuser Kürzel für Spremberger Straße. Die Straße der Stadt. Überheblich ließe sich auch feststellen – unser Ku’damm. Oben, am südlichen Ende, überragt der Spremberger Turm altbürgerliche Wohn- und Geschäftshäuser, Banken und vorbeiquietschende Straßenbahnen. Dieser dicke Turm mit seinem steinernen Bauch ist fast so alt wie meine Heimatstadt, die immerhin schon über 770 stolze Jahre auf dem Buckel trägt. Hussiten bissen sich am Turm die Zähne aus und Wallensteins Plünderer. Er nahm Pestkranke auf und später hugenottische Emigranten. Dann rissen ihm der Siebenjährige Krieg und Napoleons Truppen Wunden. Baumeister Schinkel heilte sie mit neuen Zinnenkronen, die noch immer halten.
Mich brachten der Zufall und natürlich meine Mutter in Cottbus auf die Welt. Ich liebe die Stadt. Früher hieß sie Chotibus, Godebuz, Choschobuz und Kottbus, Sorbisch immer Chosebuz. An ihrem Wahrzeichen, dem Turm, nahm vieles seinen Lauf. Beim Dickbäuchigen hatte ich mein erstes Rendezvous …
Mein erster Lehrer
Lebte er noch, ich könnte ihn jeden Tag umarmen. Meinen ersten Grundschulklassenlehrer, Herrn Hildebrand. Nie hatten wir herausbekommen, wie er mit Vornamen hieß. Doch das tut längst nichts mehr zur Sache. Was mir aber Herr Hildebrand schenkte, wie er mir vorentscheidende Lebensweichen stellte, das bleibt unvergessen. Als ich in der vierten Klasse war, bekam ich eine sogenannte Freistelle, so dass ich auf die Mittelschule gehen konnte. Meine Mutter freute sich sehr, aber mein Vater war unsicher. Ich sehe es noch vor mir: Vater ging eines Abends mit mir in den Cottbusser Ortsteil Ströbitz, wo Lehrer Hildebrand wohnte. Dort klopften wir an seine Tür. Was ist denn? Ich bin der und der, sagte mein Vater, und mache das und das, und ich will nur fragen, kommen da größere Kosten auf uns zu? Nein, wir haben doch gesagt, der Junge kriegt eine Freistelle. Aber trotzdem, die Bücher und Hefte und alles, kostet das nicht doch? Nein, nein, dafür wird schon gesorgt werden. Damit waren die Zweifel aus dem Weg geräumt, und so trat es auch ein. Ich habe später, als ich sechzehn war, für die Oberschule wieder eine Freistelle bekommen.
Musterschüler
Ich gehörte zu den ganz guten Aufsatzschreibern. Noch besser war ich aber als Gedichteaufsager. Das brachte mir auch den Respekt der Klassenkameraden, weil ich ihnen oft aus der Patsche half. Jeder weiß von solchen Situationen: Der Deutschlehrer stellt die Hausaufgabe, bis zur nächsten Woche beispielsweise Schillers »Glocke« zu lernen. Dann ist es so weit.
»Wer meldet sich freiwillig? Na …?«
Schweigen im Klassen-Wald. Das war meine Chance.
»Ich!«
Ein zufriedener Lehrer sah das Eis gebrochen, und für die Mitschüler waren die lähmenden Peinlichkeitssekunden vorbei. Ich hatte sie erlöst. Was andere irritierte, manche total verunsicherte, machte mir Spaß. Vorn zu stehen, Auge in Auge mit teils verlegenem, teils feixendem Publikum. Ich legte los.
Rilke
Jede Schule delegierte damals die Besten zu Rezitatoren-Wettbewerben. Im Cottbuser Stadttheater ging es um die Stadt-Besten, die wurden dann zur Landes-»Meisterschaft« geschickt. Eine erlebte ich in Frankfurt. Es musste eine »Pflicht« und eine »Kür« geboten werden. Pflicht hieß, eine vorgegebene Ballade zu rezitieren. Ich weiß noch genau, beim Endausscheid war das Uhlands »Des Sängers Fluch«. »Es stand in alten Zeiten ein Schloss so hoch und hehr …« Meine Kür bestand aus Versen von Rainer Maria Rilke.
Ältere Cottbuser Freunde hatten mich zum Rilke-Fan gemacht. Der gerade zuständige Deutschlehrer unterstützte mich. Mir gefiel dieser spezielle, schöne Sprachrhythmus, die dadurch möglichen Sprechmelodien und die Bilder, die Rilke schuf. Viele Metaphern verstand ich noch nicht, klar, aber alles beeindruckte mich, und die mit alten Schreibmaschinen abgetippten Texte hob ich lange, lange auf.
Fürs Finale wählte ich drei oder vier Abschnitte aus einem Rilke, der zu dieser Zeit manchen von uns begeisterte. »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«. Gleich der Anfang faszinierte: »Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten. Und der Mut ist so müde geworden, und die Sehnsucht so groß …« Meine zweite Kür-Wahl wurde Rilkes »Herbsttag«. Warum? Wieso? Keine Erklärung. Alles Lebenssymbolische dieser Zeilen ging mir erst viel später auf. Gerade die Erinnerungen, die jetzige Lebensherbstnähe und das sprachlich Ewig-Meisterliche …
Ende der Kindheit
1943, als wir Fünfzehnjährigen noch martialisch Pimpfengesänge schmetterten, verräterische Lieder, wonach »die Fahne mehr ist als der Tod«, und allen Nichtdeutschen gedroht wurde, »Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«, 1943 also, brüllten deutsche Männer, Erwachsene, im Berliner Sportpalast auf Goebbels’ Wahnsinnsfrage »Wollt ihr den totalen Krieg?« ihr selbstmörderisches »Jaaa«! In Stalingrad endete die furchtbare Umklammerungsschlacht mit dem deutschen Fiasko … Erstmals beriefen die Nazis Schüler zum Luftwaffenhelferdienst.
Obwohl sich der von Deutschland angezettelte Eroberungs- und Vernichtungskrieg längst zum mit Opfern übersäten Rückzugsmarsch aller deutschen Truppen gewendet hatte, hörten wir in der Schule tagtäglich weiter Ruhmesgeschichten und Aufmunterungsparolen … Neben der Schultafel hing seit Kriegsbeginn eine große Europakarte. Dort mussten wir jeden Tag nach den Sondermeldungen des Reichsrundfunks bunte Stecknadeln pinnen. So blickten wir jede Stunde auf das großartige Stecknadelgemälde, das bewies, wo unsere Soldaten überall stehen, wie weit es Kriegs-Deutschland schon gebracht hatte. Von der Normandie bis vor Moskau, von Afrika bis an den Nordpolrand, Deutschland, Deutschland über alles …
Wir galten als die Zukunft dieses Deutschlands, und unsere nächste Zukunft sollte sein, auf dem »Feld der Ehre« neue Taten zu vollbringen.
Dem widmete sich auch das Erziehungsmotto: Seid schnell wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl. Das wurde uns eingeimpft bei Schulapellen, Jungvolk- und Hiltlerjugend-Aufmärschen, und Redner wiederholten es gebetsmühlenartig bei jeder Gelegenheit. Es tönte aus dem Radio. Es stand in den Zeitungen. Sport, gewöhnliches Sporttreiben priesen Ideologen als beste Vorbereitung für den Waffendienst. Als allerbeste die durch den Leistungssport. Krönend, so lautete eine logische Fortsetzung solcher Menschenverachtung und Menschenfeindlichkeit, sei der Jünglingstod fürs Vaterland … Das junge Geschlecht, das waren wir, vorgesehen als frisches Kanonenfutter.
… Ambitionierter Jungsportler
Hochfliegende Träume
Während der Cottbuser Schulzeit zählten mich die Lehrer zu den eifrigsten und manchmal auch zu den besten Sportlern. Einige hatten es gut verstanden, mein Sportinteresse zu wecken, meinen Ehrgeiz anzustacheln. So startete ich bei allen möglichen Leichtathletiksportfesten. Hochspringen und Diskuswerfen waren meine Spezialitäten.
Cornelius Cooper Johnson gewann 1936 bei den Olympischen Sommerspielen in Berlin die Hochsprung-Goldmedaille mit 2.03m. Sein Landsmann David Albritton schnappte sich mit 2.00m die Silbermedaille. Beide Amerikaner »rollten« über die Latte. Etwas total Neues, Überraschendes und Revolutionierendes. Bis dahin sprangen alle einen Scherstil. Davon gab es x Varianten. Jeder Hochspringer zimmerte seinen persönlichen. Ich kam damit als Zehnjähriger über 1.20m. Im Olympiafilm erlebte ich dann diese verblüffende Demonstration der Berlin-Gewinner.
Fortan versuchte ich auch, dieses »Rollen« in den Griff zu kriegen. Mit vierzehn Jahren langte ich bei 1.50m an, und als Sechzehnjähriger, kurz bevor andere Ereignisse böse Wenden schafften, kam ich noch auf 1.68m. Das konnte sich sehen lassen. Ich träumte aber von den zwei Metern. In jenen Jahren hatten überhaupt erst zwei deutsche Hochspringer diese Höhe bewältigt, die heutzutage für Hunderte von Sechzehnjährigen zwischen Moskau und Los Angeles längst kein Traum mehr ist.
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