FLORIAN GANTNER
ROMAN
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Salzburg – Wien
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Umschlaggestaltung: buero 8 / Thomas Kussin
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Jessica Beer
ISBN ePub:
978 3 7017 4664 4
ISBN Printausgabe:
978 3 7017 1748 4
Kapitel 1 1 Eine Wand ist nichts. Ein zugezogener Vorhang ist kein Hindernis. Weil alles, was da ist, sich auch messen lässt. Nehmen wir die Quellenstraße, sagt Marek Kostka, der seit drei Jahren in dieser Straße wohnt, auf die er die letzten Tage von seinem Fenster aus hinuntergeschaut hat, als wolle er wie ein Streetview-Fahrzeug jeden Quadratmeter in sich aufnehmen: 3060 Meter schneidet sie durch Favoriten, von der Südosttangente bis zur Triester Straße. Eine Fahrbahn für Autos, Straßenbahnen und Radfahrer, zwei Gehsteige für Fußgänger. Entlang der Quellenstraße kannst du dir in einundzwanzig Läden die Haare schneiden lassen, in achtzehn Lokalen und an vier Ständen einen Kebab bestellen, es gibt sechs Handyshops, fünf Juweliergeschäfte, vier Wettbüros und vier Schlüsseldienste, die auch Schuhservice anbieten. Was Schuhe mit Schlüsseln zu tun haben, hab ich mich schon immer gefragt, wirft Benno ein. Was ich sagen will, fährt Marek fort: Das alles kann man messen und Schlüsse daraus ziehen. Er bleibt vor dem Haus mit der 63 stehen, nickt in Richtung Hausnummer, holt seinen Schlüssel aus der Hosentasche und sagt: Nehmen wir den Sanierungszustand des Hauses, Mietpreis, Lebensstil, soziale Strukturierung und so weiter – das alles sind Daten, die du mit einem entsprechenden Algorithmus entschlüsseln kannst. Damit siehst du in jede Wohnung. Der Algorithmus sagt dir, was hinter den zugezogenen Vorhängen los ist.
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Danksagung
Eine Wand ist nichts. Ein zugezogener Vorhang ist kein Hindernis. Weil alles, was da ist, sich auch messen lässt. Nehmen wir die Quellenstraße, sagt Marek Kostka, der seit drei Jahren in dieser Straße wohnt, auf die er die letzten Tage von seinem Fenster aus hinuntergeschaut hat, als wolle er wie ein Streetview-Fahrzeug jeden Quadratmeter in sich aufnehmen: 3060 Meter schneidet sie durch Favoriten, von der Südosttangente bis zur Triester Straße. Eine Fahrbahn für Autos, Straßenbahnen und Radfahrer, zwei Gehsteige für Fußgänger. Entlang der Quellenstraße kannst du dir in einundzwanzig Läden die Haare schneiden lassen, in achtzehn Lokalen und an vier Ständen einen Kebab bestellen, es gibt sechs Handyshops, fünf Juweliergeschäfte, vier Wettbüros und vier Schlüsseldienste, die auch Schuhservice anbieten.
Was Schuhe mit Schlüsseln zu tun haben, hab ich mich schon immer gefragt, wirft Benno ein.
Was ich sagen will, fährt Marek fort: Das alles kann man messen und Schlüsse daraus ziehen. Er bleibt vor dem Haus mit der 63 stehen, nickt in Richtung Hausnummer, holt seinen Schlüssel aus der Hosentasche und sagt: Nehmen wir den Sanierungszustand des Hauses, Mietpreis, Lebensstil, soziale Strukturierung und so weiter – das alles sind Daten, die du mit einem entsprechenden Algorithmus entschlüsseln kannst. Damit siehst du in jede Wohnung. Der Algorithmus sagt dir, was hinter den zugezogenen Vorhängen los ist.
Sie schwärmen aus in der Stunde, in der die einen bereits schlafen, die anderen aber noch nicht wach sind. Auf diese eine Stunde haben sie gewartet, die Stunde, in der die Straße ihre Verbündete ist und jeden ihrer Tritte schluckt. Niemand soll sie hören.
Eine Gruppe biegt links weg, Parko schnalzt mit der Zunge, was so viel wie Gutes Gelingen, Kommando Jamaal heißt.
Als nächstes Kommando Myrina, rechts weg. Einen fröhlichen Ausruf hören sie. Auch wenn sie alle Masken tragen, die Gesichter verhüllt sind, wissen sie, dass es Varizella war. Crazy Varizella: Ich steck euch an, dann sind wir alle Varizella!
Übrig bleibt das Kommando Dakizo. Mirjam hat diesmal den Namen bestimmt. Sie ist auf einer Website mit afrikanischen Vornamen rumgesurft, hat bis D hinuntergescrollt: Dakizo ist Swahili für Protest. Sie würde gern jemanden kennenlernen, der Protest heißt.
Dakizo erreicht den Zielort. Pollo stellt den Rucksack auf den Boden. Das Klackern der Dosen, aber niemand, den das stören würde. Nur sie sind da: Gradec, Pollo und Mirjam. Einsatzkommando Dakizo steht bereit.
Okay, sagt Gradec.
Mirjam hört heraus, dass er eine bessere Idee hat, sich aber am Riemen reißt. Gradec, Kenner der Zusammenhänge und Meister der cleveren Slogans. Die für Mirjams Geschmack aber manchmal eine Spur zu clever sind. Gradec sprayt etwa Zeigt euch! und erklärt, dass der maximale Effekt der Überwachung gegeben ist, wenn der Überwacher nur als konstante, unsichtbare Drohung existiert.
Mirjam ist das zu sehr um die Ecke gedacht. Wenn der Otto Normalpassant liest Zeigt euch! , denkt er doch nicht an Überwachung. Der denkt höchstens an Versteckenspielen im Kindergarten. Mirjam stellt sich Gradec als Kindergartenkind vor, mit Brille und Pullunder. Der Miniatur-Gradec stolpert durch den Garten und sucht vergeblich die anderen Kinder, stellt sich dabei unglaublich blöd an, rennt immer wieder an stümperhaft Versteckten vorbei, bis er schreit: Zeigt euch! Und Mirjam sieht sich selbst als Pferdeschwanz-Mirjam. Sie sieht, wie sie lachend hinter einem Blumentrog hervorspringt und so tut, als ob Gradec sie entdeckt hätte.
Auch wenn sich andere bei Zeigt euch! vielleicht keinen verpeilten Dreikäsehoch vorstellen – Mirjam ist der Meinung, ein Slogan muss direkter sein. So wie der hier, den sie gebückt schlurfend auf den Asphalt sprüht, Buchstabe für Buchstabe, damit die Kamera da oben auch gut mitlesen kann: WIR ÜBERWACHEN ZURÜCK!
Sie blickt zu Gradec, der es abnickt. Ja, ist unverblümt, direkt, geht schon in Ordnung. Das riesige Auge, das die Überwachungskamera anstarrt, überlässt sie Pollo. Und der macht sich mit Windmühlenarmen an die Arbeit. Pollo, Meister der Spraydose, Kreativkopf des dreiköpfigen Monsters namens Kommando Protest.
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