Sonja und Barbara, die 16-jährigen Zwillingsmädchen der beiden, warfen gerade ihre Blumen ins offene Grab, als Sigrid sanft die Hand ihres Mannes drückte und ihn damit aus den düsteren Gedanken zurück in die Gegenwart holte. Thomas sah seine Frau an und sagte: »Auf geht’s zum Leichenschmaus. Wolfgang hätte gewollt, dass wir uns auf das gute Essen freuen!«
Weder Sigrid noch Thomas hatten bemerkt, dass sie ein unbekannter Herr, der ganz offenbar niemanden kannte und so gar nicht zur Trauergesellschaft dazugehörte, aus der Ferne beobachtet hatte. Kommissar Michael Leyrhofer runzelte die Stirn. Irgendwas war da bei dem Bruder des Ministers, außer der Trauer. Er hatte dessen finsteren Blick beobachtet, und er sah die Sorgenfalten auf der Stirn von Sigrid. Der Kommissar hatte immer schon ein feines Gespür für Menschen gehabt. Gleich nach dem Leichenschmaus, dachte er sich, würde er den beiden auf ihrem Hof einen Besuch abstatten. Davor, das verbot ihm sein Respekt vor dem Toten, würde er ihnen noch Zeit für ihre Gäste geben und sich stattdessen ein wenig im Dorf umhören. In kleinen Gemeinden wusste schließlich jeder über jeden Bescheid. Vielleicht lag hier ja bereits ein Motiv für den vermeintlichen Mord vergraben.
»Endlich haben wir das geschafft«, sagte Sigrid zu ihrem Mann, als die beiden mit ihren zwei Mädchen nach dem langen, intensiven Trauertag nach der Kirche und dem Wirtshaus auf ihren Hof zurückkamen. Tochter Sonja zog hastig ihren schwarzen Wintermantel aus und sagte zu ihrer Schwester Barbara: »Und, was machen wir jetzt?«
Die antwortete: »Gehen wir aufs Zimmer und schauen die nächste Staffel von Schneeball-Queen auf Netflix.«
»Ja, machen wir das.«
So schnell konnten die beiden Erwachsenen gar nicht schauen, da waren sie allein in ihrer Bauernstube. Sie zündeten das Feuer im Kamin an, um die beginnende, sich durch die im alten Gemäuer befindlichen Ritzen hereinschleichende Kälte von draußen wenigstens etwas einzudämmen. Sigrid setzte das Teewasser auf. Abends, da tranken die beiden keinen Kaffee mehr, sondern nur noch warme Kräutermischungen. Das hatte Sigrid auch ihrem Mann so angewöhnt, der früher gerne noch zu später Stunde einen Kaffee getrunken hatte, einfach, weil es ein warmes Getränk war. Plötzlich klingelte es. »Wer kann denn das jetzt noch sein?«, fragte Sigrid erstaunt. Die Bäuerin ging zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit.
»Guten Abend! Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich muss dringend mit Ihnen sprechen. Ich bin der Kriminalkommissar, der im Todesfall Ihres Schwagers ermittelt. Wir hatten bereits miteinander telefoniert. Es tut mir leid, dass ich mich nicht vorangemeldet habe, aber ich hätte da ein paar Fragen an Sie.«
Kriminalkommissar Leyrhofer war es etwas unangenehm, dass er sich nicht doch ein Pensionszimmer gebucht hatte und erst am nächsten Morgen zu dem Ehepaar gegangen war. Drinnen brannte der Kamin und es sah so aus, als würden die beiden noch ihre Trauer gemeinsam aufarbeiten. Entsprechend ablehnend war auch die erste Reaktion auf seinen Besuch. »Ich habe doch schon alles der Polizei gesagt«, seufzte Sigrid Steinrigl und war kurz davor, die Tür wieder zu schließen. Sie hatte das am Unfallort Erlebte schon oft geschildert und ihre Aussage auch zu Protokoll gegeben. Das letzte Mal war sie von einem der Beamten so behandelt worden, als hätte sie etwas mit dem Tod ihres Schwagers zu tun.
»Ich will diesmal auch gar nicht mit Ihnen sprechen«, sagte der Kommissar in bestimmtem Tonfall, »sondern mit Ihrem Mann.« Abwimmeln lassen wollte er sich jetzt nicht. Sigrid schien dies zu bemerken und öffnete die Tür ganz. Vielleicht war es besser, den Beamten nicht zu verärgern, dachte sie sich. Ärger hatten sie schließlich derzeit schon genug.
»Na, dann kommen Sie herein. Aber das nächste Mal rufen Sie bitte vorher an, der Tag der Beerdigung meines Schwagers ist wirklich nicht der optimale Zeitpunkt für Ihren Besuch.«
Der Zynismus in Sigrids Stimme war deutlich zu hören. Der Kommissar nahm es gelassen. Wo sie recht hat, hat sie recht, dachte er sich. Nichtsdestotrotz konnte die Arbeit nicht warten. Bisher hatte der Kommissar keinen einzigen ernstzunehmenden Verdächtigen und der Crash lag jetzt schon 14 Tage zurück. Allerdings, das musste er sich zu seiner Verteidigung immer wieder selbst sagen, wusste man erst seit sieben Tagen, dass es sich bei dem Delikt um einen Mord gehandelt hatte. Den arbeitslosen Hobby-DJ, den das »Precrime«-System ausgespuckt hatte, ordneten seine Kollegen und er eher in die Kategorie »dummer Zufall« ein. Seine Befragung im Ort heute Mittag hatte allerdings auch nicht das ergeben, was er sich gewünscht hatte. Da musste er noch einmal wiederkommen und nachbohren, denn das halbe Dorf schien beim Leichenschmaus gewesen zu sein und seine Ermittlungen waren diesbezüglich nicht sehr weit vorangeschritten. Umso wichtiger war es, dass er die Befragung von Thomas Steinrigl jetzt sorgfältig führte und genau hinhörte, ob sich hier Ungereimtheiten ergaben. Sein Gefühl sagte ihm, dass das Ehepaar irgendetwas bedrückte. Doch hing das wirklich mit dem Tod ihres Familienangehörigen zusammen?
Der Kommissar blickte durch die Bauernstube. Schon beim Reinkommen war ihm neben den Tassen mit dem dampfenden Tee gleich ein zentral platziertes Display aufgefallen, das an der Wand befestigt war, als plötzlich der Hausherr, Thomas Steinrigl, zu ihm kam und ihm verlegen die Hand schüttelte. »Herr Steinrigl, bitte nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich Sie an so einem traurigen Tag stören muss. Es ist nur mein Job«, entschuldigte sich der Kommissar einmal mehr beim Landwirt.
»Kein Problem, ich versteh das, dass Sie auch nur Ihren Job tun müssen. Kommen S’ rein in die gute Stube. Wollen S’ einen Tee? Sigrid hat uns gerade einen gemacht. Das Wasser kocht sicher noch.«
»Gerne doch. Rein aus Neugier: Darf ich fragen, was Sie da an der Wand hängen haben?«
»Ach das«, sagte der Landwirt. Sein Blick verfinsterte sich schlagartig. »Das ist ein Display für den Kuhstall. Damit können wir immer sehen, was die Roboter gerade machen. Wir haben Melkroboter und Fütterungsroboter und Sensoren, die unsere Tiere rund um die Uhr überwachen.«
»Spannend, spannend. Bei unserer Arbeit sollen uns auch Computer dabei helfen, effizienter zu sein und Fälle schneller aufzuklären. Mein subjektives Gefühl sagt mir aber, dass das nicht wirklich etwas bringt. Ich wusste gar nicht, dass man in der Landwirtschaft genau denselben Fehler macht.«
»Wenn man so wenig Zeit hat wie ich, braucht man das«, seufzte der Landwirt. »Das ist schon eine enorme Arbeitserleichterung. Und den Tieren schadet das nicht. Zumindest haben wir noch nichts bemerkt.«
»Ganz glücklich wirken Sie damit aber nicht«, stellte der Kommissar fest.
»Schauen Sie, die Zeitersparnis durch die Automatisierung ist enorm. Nur so kann ich meine Funktion als Bürgermeister dieser wunderschönen Gemeinde überhaupt ausführen. Aber bis wir die Kosten der Anlage wieder reinkriegen, das kann dauern.«
»Wie viel kostet so etwas denn?«
»Das wollen Sie gar nicht so genau wissen. Ein Melkroboter alleine kommt auf 120.000 Euro. Wir haben zwei davon. Und dann kommen da noch die Steuerungsanlage dazu, die Fütterungsroboter und die Spaltenroboter, die die Laufgänge reinigen. Dann haben wir noch automatische Selektionstore, damit die Kühe immer rechtzeitig gemolken werden. Und dann haben wir noch verschiedene Sensoren zur Überwachung der Tiere. Aber ich schätze, so genau wollten Sie das alles gar nicht wissen. Entschuldigung, wenn ich Sie damit vollquatsche. Sie sind ja wegen was ganz anderem da.«
»Nein, nein, das ist alles sehr interessant. Auch wenn ich selbst nicht unbedingt ein Freund der modernen Technik bin, das ist doch trotzdem die Zukunft, oder? Zumindest wird uns das immer eingeredet. Wie viel kostet das denn jetzt alles zusammen?«
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