Kein Wort von Nanno, registrierte Sina. Sie hätte gern mal gehört, was der heute so dichtete und sang. Seit der Schulzeit hatte sie ihn völlig aus den Augen verloren, noch gründlicher als Melanie Mensing. Dabei hatte sie einmal mächtig für ihn geschwärmt. Aber dass Lieder und Gedichte unter diesen Umständen wohl nicht ganz ins Programm passen würden, sah sie natürlich ein.
Kornemann trat vor, griff sich das Mikrophon mit der Linken, ohne hinzusehen, und legte los, ohne Anrede und Begrüßung, aber zu Sinas Überraschung sehr sachlich. Seine Stimme klang tief, fest und befehlsgewohnt, unaufdringlich selbstsicher. Die Menge lauschte fast atemlos. »Laut vorläufigem Untersuchungsbericht der Polizei wurde die Tat zwischen Mitternacht und etwa fünf Uhr dreißig morgens begangen, beteiligt waren fünf bis zehn Personen, die mit mindestens zwei Pkw zum Tatort gefahren waren …«
Sina fühlte Melanies Arm an ihrem und konnte spüren, wie sie erst erstarrte und dann stärker als gewöhnlich zu beben begann. Ihr Gesicht war wieder bleich, stellte Sina mit einem Seitenblick fest. Aber das war es ja meistens. Ihrer Schönheit tat das keinen Abbruch, eher im Gegenteil.
Kornemann sprach jetzt von der vermutlichen Schadenshöhe, vom Stromproduktionsausfall und von der geschätzten Dauer bis zur Errichtung einer Ersatzanlage. Das Attentat selbst hatte er offenbar übersprungen.
Vor der Bühne wurde Unmut laut. »Wor hebbt se dat denn nu maakt?«, rief jemand. Aufmunternde Zurufe ertönten. Offenbar interessierte es eine Menge Leute, wie man solch einen Rotor herunterholen konnte.
»Details der Tat nenne ich wohlweislich nicht«, sagte Kornemann. »Ich teile ganz die Auffassung der Polizei, dass irgendwelche Sympathisanten nicht auch noch zur Nachahmung angeregt werden sollen.« Der Blick seiner dunklen Augen hatte den Zwischenrufer ausgemacht und gepackt. Lider und Gesichtszüge blieben unbewegt, lediglich die Brauen schienen sich ein wenig gesenkt zu haben. Die Rufe verstummten. Sina spürte Melanies Ellbogen. Sie hatte wieder die Arme verschränkt.
Kornemann trat zur Seite und gab das Mikro weiter an Boelsen. Beifall brandete auf. Fast alle klatschten, auch Melanie, stellte Sina fest. Dieser Boelsen, von dem bei aller zur Schau getragenen Überkorrektheit auch ein Rest jungenhafter Ausstrahlung ausging, wirkte tatsächlich nicht unsympathisch. Sina hatte in ihrer eigenen Zeitung schon mehrmals über ihn gelesen, hatte seine Vorstellung von ökonomisch orientierter Ökologie zwar nicht unbedingt überzeugend, aber doch glaubwürdig gefunden. Klar, dass jeder, der nicht ganz und gar im anderen Lager stand, von ihm angetan war. Und auch dieses andere Lager klatschte. Wenn der Anschlag auf Boelsen ein politisch motivierter war, dann entpuppte er sich spätestens hier als Bumerang, überlegte Sina.
Boelsen schilderte das Attentat knapp und undramatisch. »Der Schrotschuss traf das linke hintere Seitenfenster meines Wagens, meine Verletzungen rühren ausschließlich von den Glassplittern her.« Fehlgegangener Mordanschlag, gezielte Warnung oder verirrter Schuss eines Jägers – Boelsen ließ es offen, sparte sich jede Schuldzuweisung und kassierte damit weitere Pluspunkte auf der Gegenseite.
Diesen Kredit löste er sofort ein, indem er ein Plädoyer für die Windkraft anschloss: »Der heutige Tag hat wieder einmal gezeigt, wie viel Überzeugungsarbeit noch zu leisten ist. Wir werden uns nicht irremachen lassen, wir werden unseren Weg weitergehen, weil wir wissen, wohin er führt, und weil wir wissen, dass wir genau dorthin wollen.«
Niemand unterbrach ihn, niemand pfiff, der Schlussapplaus war fast so laut wie die Begrüßung. Clever, dachte Sina.
Acht Personen hatten inzwischen an den zusammengeschobenen Resopaltischen hinten auf dem knapp achtzig Zentimeter hohen Podium Platz genommen, sieben Männer und eine Frau. Niemand rührte sich, als Boelsen sich umschaute und die Hand mit dem Mikrophon anbietend zur Seite reckte. Kornemann fuhr herum, ungehalten von einem Augenblick zum anderen. Fordernd zuckte seine linke Hand hoch. Da gab sich Iwwerks einen Ruck.
Er hatte sich gestylt wie immer zu solchen Anlässen. Die Bartkrause hatte er sorgfältig nach vorn gekämmt, die Elbseglermütze aufbehalten; das dunkelblaue Fischerhemd mit den dünnen weißen Streifen spannte sich leicht über seinem Bauch. Zur schwarzen Manchesterhose trug er seine neuen, hinten geschlossenen Clogs, in denen er sich noch nicht ganz sicher fühlte. Daher fiel sein Gang noch seemännisch-rollender aus als gewöhnlich.
»Was hat der denn vor? Ein Shanty singen?«, entfuhr es Sina, als Iwwerks zum Mikro griff. Mehrere der Umstehenden drehten sich nach ihr um und lachten. Melanie lachte nicht.
Der Radau brach auf der rechten Flanke los, kaum dass Iwwerks den Mund geöffnet hatte. »Hol doch dien Muul, du Dööskopp!«, ertönte eine heisere, aber überraschend laute Männerstimme. Die weiteren Zurufe waren nicht mehr zu verstehen, sie flossen ineinander wie Bronzebäche, die zusammen eine Glocke erzeugten. Eine aus Gebrüll, die Iwwerks’ Worte vollständig zudeckte. Sina stellte sich auf die Zehenspitzen und sah geballte Fäuste, geschwungen von Männern, die ganz ähnlich, wenn auch nicht so perfekt ausstaffiert waren wie der verhinderte Redner.
»Die Guntsieter Fischer!« Melanie schrie ihr direkt ins Ohr. In der Halle wurde es immer lauter; einige stimmten in den Fischer-Chor ein, andere brüllten dagegen an. Die Spaltung, die Boelsen so geschickt übertüncht hatte, war schlagartig wieder da.
»Was haben die denn gegen den?«, schrie Sina zurück.
»Die ostfriesischen Fischer hatten alle zusammen gegen die Emsvertiefung geklagt. Dann hat die Werft, die als Einzige von der Vertiefung profitiert, den Guntsietern neue Kutter versprochen, und da haben die ihre Klage zurückgezogen.« Melanie stützte sich auf Sinas Schulter. Mehr und mehr geriet die Menge in Bewegung. Es knuffte und schubste von allen Seiten. »Iwwerks war stinksauer und hat mächtig auf die anderen geschimpft. Die haben geantwortet, er sei ja gar kein Fischer mehr, sie aber müssten schließlich vom Fischfang leben, also solle Iwwerks sich da raushalten. Und dann hat Iwwerks sie in einem Interview als Verräter bezeichnet. Vor ein paar Tagen erst.«
Klar, dachte Sina. Die Fischer haben nur auf die nächste Chance gewartet, um sich Iwwerks öffentlich vorzuknöpfen. Und haben voll ins Wesennest gestochen.
Das Getöse nahm immer noch zu. Irgendwo schrillte eine Trillerpfeife, gleich darauf stimmten andere ein. Offenbar waren nicht nur die Fischer mit festen Krawall-Absichten hergekommen. Durch einen Wald von gereckten Armen und fuchtelnden Fäusten sah Sina ihren Physiklehrer mit dem Mikrophon, hörte drei, vier beschwörende Worte, dann war der Ton weg. Das Podium wurde fluchtartig geräumt, die Leute rannten zum Hinterausgang. Kornemann, Boelsen und Iwwerks waren schon nirgends mehr zu sehen. Ein Teil der Menge drängte nach vorn, der andere nach links, zum Hauptportal.
»Nichts wie raus«, schrie Sina. Jetzt begriff sie, was es bedeutete, das eigene Wort nicht verstehen zu können. Eine neue Erfahrung, dachte sie, während sie sich hinter Melanie her zum Ausgang kämpfte.
Etwas Hartes krachte gegen ihre Knie. Sie stoppte, wurde weitergeschoben, taumelte, kämpfte um ihr Gleichgewicht, klammerte sich an irgendwelchen Armen fest. Vor und unter ihr saß Nanno in seinem Stuhl. Sie schaute direkt in seine grauen Augen. Der Schmerz verging, als er lächelte. Was er sagte, konnte sie nicht hören. Er drehte sich nach vorn, seine Arme stießen auf die Räder hinab. In seinem Kielwasser passierte sie das Nadelöhr.
Draußen blieben sie erst hinter den Parkplätzen stehen. Sina spürte den Schweiß am ganzen Körper und fror plötzlich. Ihre Jacke hatte sie im Auto gelassen.
»Frostkötel«, spottete Nanno, als sie sich in ihre eigenen Arme zu wickeln versuchte. »Hast dich wirklich kaum verändert.«
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