RACE INTERRUPTED! Der Schriftzug erschien plötzlich bildfüllend. Flammte sogar mehrmals auf.
Was sollte das? Rennen unterbrochen? Igor hatte doch eben überholt, war in Führung gegangen. Was war mit dem blauen Punkt geschehen?
Was? Keine Frist willst du mir geben?
»Geht ihr schon bitte vor. Ich habe nach dem Abschminken noch etwas dringend zu erledigen. Ich komme dann später nach.« Sie verschwand hinter der Garderobentür. »Solistengarderobe. Frau Laudess«, war auf dem Schild am Eingang zu lesen. Isolde schnaubte kurz durch. Das war wieder typisch für ihre Schwester. Sich zuerst langmächtig beknien lassen, dann halbherzig zustimmen und dann in letzter Sekunde mit irgendeiner faulen Ausrede vermutlich doch kneifen. Ihr sollte es recht sein. Sie hatte ohnehin keinen Wert darauf gelegt, dass ihre Frau Schwester zu dieser improvisierten Feier mitkam. Aber Folker hatte es immer wieder versucht, hartnäckig bittend, bisweilen auch zuckermäulig schmeichelnd. Und schließlich hatte Senta sich offenbar erweichen lassen und zugesagt. Ja, sie würde an Folkers kleiner improvisierter Geburtstagsfeier teilnehmen. Gleich nach Ende des Auftritts. Die anderen großen Stars aus dem »Jedermann«-Ensemble waren noch drüben auf dem Domplatz. Doch für die Buhlschaft war die Vorstellung bald nach dem Erscheinen des Todes vorbei. Und für die Mitglieder der Tischgesellschaft auch. Also konnte sich Senta ihnen anschließen, wenn sie gleich zum »K+K« Restaurant aufbrachen. Falls sie überhaupt mitkam. Isolde war es verdammt egal. Auch sie würde nicht lange bleiben. Aber sie hatte es Folker und Bianca versprochen. Zwei weitere Kollegen aus dem Darstellerensemble der Tischgesellschaft würden ebenfalls dabei sein. Stars wie ihre Schwester verfügten natürlich über eine eigene Garderobe. Für die Darsteller der kleinen Rollen, also der Tischgesellschaft, genügten zwei größere Gruppenräume.
Isolde brauchte keine zehn Minuten. Dann war sie abgeschminkt und umgezogen.
Sie wartete auf die anderen. Gleich darauf zogen sie zu fünft los, verließen das Festspielhaus.
»Hey, heute ist gar nicht mehr so viel los in der Stadt!«, bemerkte Isolde und hängte sich bei Bianca und Folker ein. »Dabei ist es erst 22.30 Uhr vorbei.« Sie bogen in die Philharmoniker-Gasse ein. Keine zwei Minuten später waren sie schon am Mozartplatz. Der Waagplatz mit dem angestrebten Restaurant lag gleich dahinter.
»Nein, nicht schon wieder«, entfuhr es Isolde. Sie hielten gerade auf den steinumfassten Eingang im Erdgeschoss zu, als eine der beiden großen Holztüren aufschwang und zwei Leute herauskamen. Auch die beiden Personen hielten in der Bewegung inne, waren sichtlich überrascht.
»Was soll das, Isolde?« Die Stimme des jungen Mannes war scharf, er klang ähnlich gereizt wie schon am Nachmittag. »Reicht es nicht, dass du ungebeten bei unserer Vorstellung auftauchst? Spionierst du uns jetzt auch noch im Wirtshaus nach?«
Die junge Frau, es war Ariana, wie Isolde bemerkte, fasste ihren Begleiter am Arm. »Komm, Cyrano, lass es gut sein. Das bringt doch nichts!« Der andere wollte etwas einwenden, aber die junge Frau zog ihn einfach mit sich fort. Sie verschwanden in Richtung Judengasse. Isolde bemerkte die leicht irritierten Blicke ihrer Kollegen. »Hast du Zoff mit denen?«, wollte Bianca wissen.
»Ach, das sind, wenn man es so nennen will, Kollegen.« Sie machte mit der Hand eine abschätzige Bewegung. »Die gehören zum Salzburger Straßentheater. Wie man bemerkt hat, sind sie derzeit nicht gut auf mich zu sprechen. Darüber erzähle ich euch vielleicht ein anderes Mal mehr. Aber nicht heute. Jetzt wollen wir auf Folkers Geburtstag anstoßen.«
Sie ging voraus, die anderen folgten rasch nach, betraten ebenfalls das Restaurant. Der Kellner brachte sie zum reservierten Tisch. Er befragte sie sogleich nach den Getränkewünschen. An der Wand hing eine elegant gestylte Uhr. Sie zeigte 22.43 Uhr. Isolde hatte noch genau zwei Stunden und 51 Minuten zu leben. Aber das wusste sie nicht. Sie bestellte einen Aperitif mit Cranberry und einem kleinen Schuss Wodka.
Hab immer doch in bösen Stunden
mir irgend einen Trost ausgfunden.
Der Kopf des langen Zündholzes flammte kurz auf, doch gleich darauf war er wieder verlöscht. Sie zog erneut die Schachtel auf, wählte ein anderes Streichholz. Dieses Mal klappte es. Ihre Hand zitterte zwar. Fast hatte es den Anschein, als vollführe die dreieckige Narbe auf ihrem Handrücken einen kleinen Tanz. Aber sie konzentrierte sich und schaffte es, den Docht der hellen Kerze auf der kleinen Anrichte zu entzünden. So wie jeden Abend. Die langsam pendelnde Flamme warf schmale Lichtstreifen auf das Bild, das neben der Kerze aufgestellt war. Es zeigte Gesicht und Oberkörper eines jungen Mannes. Er hatte dunkle Augen und ein schmales Lächeln. Einige Monate hatte eine schwarze Schleife die rechte obere Ecke geziert. Doch sie hatte das Band vor wenigen Tagen abgenommen und es gegen ein weißes getauscht. Sie rückte sich den gestreiften Ohrenfauteuil zurecht und nahm Platz. Dann hob sie das Glas mit dem Heidelbeerlikör. Sie hielt es zuprostend in Richtung Anrichte, wartete, bis das Licht der tänzelnden Flamme die lächelnden Augen auf dem Bild erreichten und aufhellten. Dann trank sie. In wohltuend langsamen Schlucken. Sie stellte das Glas wieder ab, lehnte den Kopf nach hinten. Ihre Augen ruhten auf dem Gesicht des jungen Mannes. So würde sie sitzen bleiben und still trauern. Bis in die Morgenstunden. So wie jede Nacht.
Wo bist du Tod, mein starker Bot? Tritt vor mich hin.
Der Schlag traf sie von der Seite. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie taumelte, spürte das niedrige Geländer. Jetzt hatte sie noch genau siebeneinhalb Sekunden zu leben. Doch das wusste sie nicht. Das Handy fest in der verkrampften Rechten, versuchte sie, mit der Linken nach der kniehohen Querverstrebung zu fassen. Es gelang ihr nicht. Noch sechs Sekunden. Sie verlor das Gleichgewicht, kippte zurück. Ihr Rücken schrammte gegen etwas Hartes. Noch vier Sekunden. Sie donnerte hinunter, krachte auf den steinfesten Untergrund.
Drei. Zwei. Eins.
Dann war es vorbei.
Erster Tag
Er hob den Kopf, fuhr sich wohl schon zum 20. Mal mit der Linken in das zerwühlte Haar. Der Digitalwecker auf dem kleinen Beistelltablett zeigt auf kurz vor fünf. Sollte er sich noch länger im Bett von der einen Seite zur anderen wälzen, sich gedankenlos durchs Haar fegen, gelegentlich dabei das starke Gähnen unterdrücken, wie er es schon seit zwei Stunden praktizierte? Merana hielt kurz inne. Dann richtete er sich ein wenig auf. Nein. Er bestärkte seinen Entschluss, indem er mit dem Oberkörper Schwung aufnahm und sich dann mit einem jähen Ruck aus dem Bett schnellen ließ. Die Tür des Kleiderschranks stand halb offen. Er langte nach T-Shirt und kurzer Sporthose. In der Küche schnappte er sich ein Glas Wasser. Im Vorraum schlüpfte er in die Laufschuhe, dann verließ er das Haus. Die Luft fühlte sich frisch an. Er wandte den Kopf nach Osten. Der breite goldfarbene Streifen am Himmel leuchtete schon intensiv. In einer guten Viertelstunde würde die Sonne die ersten Strahlen über den Horizont schicken, schätzte er. Auch heute würde ganz Salzburg sich über einen weiteren herrlichen Sommertag freuen dürfen. So wie schon seit gut einer Woche. Langsam nahm er Tempo auf, hielt sich nach rechts. Er würde heute eine der längeren Routen wählen, wollte noch vor der Aigner Kirche in einen Feldweg einbiegen. Normalerweise startete er seinen Morgenlauf zwischen sechs und halb sieben. Heute war er eben schon eine Stunde früher dran. Die noch weit entfernten Baumreihen waren dicht belaubt. Aber Merana kannte zwei Stellen, durch die man den Blick frei hatte auf die Konturen der Stadt, vor allem auf die herrliche Silhouette der Festung.
Читать дальше