Reihe zu Klampen Essay
Herausgegeben von
Anne Hamilton
Jens Jessen,
geboren 1955 in Berlin, arbeitete
nach dem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Berlin und München zunächst als Verlagslektor, dann als Reiseredakteur, Feuilletonredakteur und Berliner Korrespondent bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. 1996 wurde er Feuilletonchef bei der »Berliner Zeitung«, 2000 dann bei der »ZEIT«. Seit 2012 ist er im Feuilleton der »ZEIT« Redakteur ohne besondere Aufgaben. Immer wieder hat er an Universitäten unterrichtet. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören »Deutsche Lebenslügen« (2000) und der Roman »Im falschen Bett« (2014). Bei zu Klampen ist von ihm der Essayband
»Was vom Adel blieb. Eine bürgerliche Betrachtung« (2018) erschienen.
Cover
Titel
Robinson
Ausrüstung
Im Revier
Wildwechsel
Ansprache
Balzkleider
Exkurs
Diavortrag
Schwarze Schafe
Auf trieb
Nachsuche
Impressum
Endnoten
Meae – contendere noli – stultitiam patiuntur opes
Horaz, Briefe I, 18
STELLEN wir uns einmal vor, nur zum Vergnügen und um uns für den Anfang etwas Schönes vorzustellen, ein Deutscher – der prototypische 1Deutsche – würde auf einer einsamen Insel ausgesetzt, ganz für sich allein und auf sich gestellt. Wie würde er sich dort behaupten? Wahrscheinlich sehr gut. Auf jeden Fall geschickt, erfinderisch, aus allen Quellen seiner Tapferkeit, Bedürfnislosigkeit und technischen Begabung schöpfend. »Dem Ingenieur ist nichts zu schwör!« Im übrigen ist er ein Hungerkünstler und unterwirft sich gerne den Umständen. Eine Fülle sinnreicher Installationen wird bald die Insel überziehen. Die Hängematte aus Lianen oder dem Bast eines exotischen Baumes ist eine ganz neuartige, kühne Konstruktion; in der Zivilisation könnte man sie zum Patent anmelden, und das denkt sich dieser deutsche Robinson auch; er guckt dabei recht pfiffig. Ein Meisterstück ist ebenso die Leitung vom Wasserfall direkt in seine Höhle; da kann er sich gleich morgens waschen, »erfrischen« nennt er das.
Er stellt Fallen, lernt aber auch, Termiten zu essen, und zähmt sich ein Wildtier, Waschbär oder Totenkopfäffchen, gleichviel. Vielleicht ein Gürteltier, das er am Termitenhügel kennengelernt hat. Mit dem spricht er dann. Man kann ja nicht nur Selbstgespräche führen. Der Deutsche fürchtet sich nämlich, wunderlich zu werden, und erschrickt bei seinem Anblick im Spiegel eines Baches.
Manchmal schaut er beim Sonnenuntergang aufs Meer hinaus und empfindet die berühmte Wehmut, für die es kein Wort in einer anderen Sprache gibt. Er genießt die Traurigkeit, die keine banale Sehnsucht nach Heim und Familie ist. Manchmal denkt er auch voller Hass an Frau und Arbeitsplatz. Die Insel ist jetzt meine Heimat, denkt er dabei und vielleicht mit einer gewissen schönen Bitterkeit. Vielleicht lässt er sogar das Schiff vorüberziehen, das eines Tages in Schwimmweite auf taucht. Vielleicht ergreift er aber auch die Chance, doch weniger zur Rettung, als um zu Hause einen Bestseller über sein Survival-Erlebnis zu schreiben. Wir haben sogar, während wir uns die Robinsonade vorstellen, sehr stark das Gefühl, diesen Bestseller schon einmal gelesen zu haben. –
Und jetzt stellen wir uns die entgegengesetzte Szenerie vor – dieser Deutsche, nehmen wir an, würde genauso rücksichtslos und unvorbereitet an einem gesteigert geselligen Ort, sagen wir: einer eleganten
Dachterrassenbar in São Paulo, ausgesetzt werden. Wie würde er sich dort schlagen? Wahrscheinlich weit weniger glücklich. Höchstwahrscheinlich sogar unrühmlich, von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen tapsend, ohne Sinn und Respekt für sein Gegenüber, als Tanz- wie Gesprächspartner kein Vergnügen, ohne erotische Fortune, erst schüchtern, dann alkoholisiert lärmend. Vielleicht wird er sich auch still und verdruckst davonschleichen. »Also, diese Brasilianer …«, wird er am Telefon sagen, zu Hause vom Hotelzimmer aus anrufend, Amüsiertheit vorspiegelnd, Enttäuschung verbergend.
Die gesellige Unbeholfenheit ist kein neuer Befund. Er hat im Gegenteil seit Jahrhunderten einen festen Platz in der europäischen Kulturgeschichte. 2Zur Ehre des Deutschen muss allerdings gesagt werden, dass er sich seiner Gehemmtheit – »Blödigkeit« war das Wort dafür im 18. Jahrhundert – immer bewusst war. Ein Landsmann, der sich bravourös auf internationalem Parkett und in weiblicher Gesellschaft bewegen konnte, wurde als Ausnahme bewundert, heimlich beneidet, noch heimlicher gehasst – »einen halben Franzosen« nannte man ihn dann. Auch Don Juan hatte keinen deutschen Pass. Der Deutsche als Deutscher kannte seine amourösen
Grenzen stets gut; das sprach für sein Selbstbewusstsein, tat diesem jedoch trotzdem nicht gut.
Aber warum denken wir uns den Deutschen eigentlich als Mann? Das ist eine abgründige Frage, vielleicht unwillkürlich aufschlussreich. Die spontane Antwort lautet: Weil wir ihn uns wahrscheinlich nur als Mann so selbstgenügsam, fast autistisch vorstellen können, geschickt im Umgang mit Dingen und auch mit sich selbst, ungeschickt gegenüber anderen, vor allem Fremden, wenig biegsam und alles andere als ein genialer Plauderer. 3Von Frauen erwartet man mehr soziales Talent, Kommunikationsfähigkeit, Unbefangenheit, Beweglichkeit. Möchte man sich überhaupt eine steife, unbeholfene Frau vorstellen? Das möchte man nicht – und das zeigt, auf welchem Terrain wir uns hier bewegen: auf dem der Vorurteile, Geschlechterstereotypen, Projektionen und Wunschbilder. Und natürlich will sich der Autor dieser Zeilen auch nicht ungalant zeigen. Deshalb nur um der Wahrheit willen und unter Hintanstellung aller Idealisierungen die Frage: ob vielleicht die deutsche Frau ganz andere Eigenschaften habe als der Mann?
Nein, hat sie nicht. Auch sie wäre in der Wildnis ungeheuer erfindungsreich, tapfer, praktisch – eben wie der Mann, nur vielleicht weniger romantisch. Auch sie ist in Gesellschaft nicht die brillanteste, oft schüchterner und zurückhaltender, als ihr guttut. Es gibt deutsche Frauen, die sehr schön sind – spektakuläre Schönheiten – und sich doch so benehmen, als seien sie es nicht. Ihr Gang ist nicht der Gang einer schönen Frau, sie setzen sich nicht wie eine schöne Frau, sie biegen nicht den Hals oder schlagen die Wimpern nicht nieder, wie es möglich wäre, und bewegen die Lippen im Gespräch nicht, wie es solche Lippen gebieten müssten. Manchmal stolpern sie sogar beim Weg an die Bar. Die Stilettos, die sie tragen, sind ihnen irgendwie fremd. Sie sind nur gekauft, manchmal mit sehr viel Geschmack gekauft, aber kein integraler Bestandteil ihres Wesens. Diese Frauen treten zeitlebens wie ein Teenie auf, der zum ersten Mal die Ausgeh-Rüstung angelegt hat, oder wirken jedenfalls ganz sachlich, als gebe es gar nichts zu gucken und schon gar nichts zu zeigen. Und das ist keine Verstellung: Sie sind wirklich ganz sachlich. Auf keinen Fall wollen sie berechnend erscheinen, und zwar so wenig, dass sie tatsächlich nicht berechnen, wie sehr sie auf fallen und um wieviel mehr sie auf fallen könnten, wenn sie nur ein kleines bisschen übten, in den Stilettos zu gehen.
Die Deutsche ist generell kein »Weibchen«, das müsste man loben, muss aber kein Vorteil sein, vor allem, wenn sie auf die altmodisch noch voll ausgebildeten Weibchen anderer Nationen trifft. Das sind dann »Schlangen«. Die deutsche Frau wird, ebenfalls von der brasilianischen Dachgartenparty enttäuscht, aber auch sonderbar erregt und leider folgenlos animiert, beim Heimatanruf sich über »diese Latino-Frauen« mokieren, »nein, wirklich, dieses Getue … wie sie da herumstelzen … das ist ja fast schon Prostitution … oder gefällt dir so was?« Der Ehemann oder der Sohn, mit dem sie telefoniert, bestreitet das natürlich.
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