Zwischen diesen, überwiegend auf Erfahrungen beruhenden Empfehlungen und biblischen Aussagen zum Umgang mit Dämonen besteht eine gewisse Spannung.Ohne Zweifel wissen die biblischen Autoren um die Realität von Dämonen (Mt 10,1; 12,43f; Lk 22,3-6; 8,28-31). Sie verstehen darunter übernatürliche Wesen, die gegen Gott arbeiten, Menschen in Abhängigkeit bringen und ihnen schaden wollen. Von dämonisierten Christen lesen wir im Neuen Testament nichts, höchstens von ihrer geistlichen Auseinandersetzung mit dem Bösen (Mt 6,13; Lk 22,31f; Eph 6,10ff; Kol 1,13), der durch Gedanken und Umstände Christen anzugreifen versucht. Dass Dämonen vererbt werden, dass sie sich automatisch mit einem Fluch oder einer negativen Aussage in einem Menschen festsetzen, wird in der Bibel nicht erwähnt. Die ausgedehnte Hierarchie und Namengebung der Dämonen sucht man in der Bibel ebenfalls vergeblich. Eigenschaften wie Neid und Stolz sind werden als sündige Eigenschaften bezeichnet, mit denen sich viele Menschen auseinanderzusetzen haben (Eph 2,1ff; 4,17ff; Jak 1,13ff; 4,1ff), auf einen dämonischen Ursprung dieser Eigenschaften deutet nichts. Für die mehrfach von Kraft empfohlene meditative Rückerinnerung an die eigene Zeugung, Geburt und frühe Kindheit zur Auffindung und Aufarbeitung dämonischer Belastungen, findet sich in biblischen Schriften kein Hinweis. Während der zahlreichen in den Evangelien beschriebenen Exorzismen unterhält sich Jesus nur einmal relativ kurz mit den Dämonen (Lk 8,26ff). Von einer Schwächungsstrategie ist dort wenig zu lesen, auch greift der Sohn Gottes in seiner anschließenden Dämonenaustreibung auf keine der von dem Geist erhaltenen Informationen zurück. In der neutestamentlichen Gemeinde findet sich kein Hinweis darauf, dass Seelsorger sich in längeren Gesprächen an Dämonen wandten.
Überhaupt erinnert der von Kraft geschilderte Umgang mit Dämonen eher der esoterisch, schamanistischen Praxis.Hier nimmt der sachkundige Schamane Kontakt mit der Geisterwelt auf und erfährt die dämonischen Hintergründe körperlicher und seelischer Leiden. Anschließend werden den verantwortlichen Geistern Opfer angeboten oder sie sollen durch Gebete und Rituale zur Aufgabe gebracht werden. Häufig werden in diesem Zusammenhang auch alle alltäglichen Schwierigkeiten auf den Einfluss missgünstiger Geister zurückgeführt.
Bei der hier dargestellten Therapie bestehen verschiedene Gefahren: A.Notwendige medizinische Behandlungen werden unterlassen, weil man sich auf einen vermeintlich dämonischen Hintergrund konzentriert. B.Tiefgehende Angst und Verunsicherung kann dadurch ausgelöst werden, dass alltägliche Charaktereigenschaften und geistlicher Zweifel auf dämonischen Einfluss zurückgeführt werden. C.Regelrechte Verzweiflung kann entstehen,wenn persönliche Probleme, für die Dämonen verantwortlich sein sollen, nicht dauerhaft verschwinden. Der Betreffende wird neben seinen seelischen oder körperlichen Schwierigkeiten noch durch die Vorstellung belastet, ein Dämon wohne in seinem Inneren. D.Durch die Konzentration auf die vorgebliche Aktivität der Dämonen können im Alltag unnötige Ängste geweckt und der Blick auf Gott verstellt werden. E.Es besteht die Gefahr, dass die wahrgenommene Verantwortung für eigenes Handeln zurücktritt, weil Dämonen die Schuld an eigenem Versagen zugesprochen wird. F.Labile Persönlichkeiten können durch die intensive Beschäftigung mit Dämonen eine radikale Verschlechterung ihres Wohlbefindens oder gar den Ausbruch einer psychischen Erkrankungerleben. G.Durch die Konzentration auf eigene übernatürliche Erfahrungen tritt die Bibel als Leitschnur des Glaubens zurück. H.Falsch gehandhabte Konfrontation mit übernatürlichen Mächten, kann statt zu einer Befreiung zu einer Bindung an dieselben führen. I.Die Verwendung von Formeln, Symbolen und heiligen Gegenständen fördert beim Hilfesuchenden magisches Denken. Der Vorstellung wird Vorschub geleistet, in der sichtbaren materiellen Welt verberge sich eine unsichtbare geistliche und man könne diese übernatürlichen Mächte mit innerweltlichen Methoden beherrschen. J.Lange, suggestive Seelsorgegespräche, durch die Erinnerungen an mutmaßliche dämonische Belastungen durch frühere Generationen oder in der frühen Kindheit gesucht werden, können dazu führen, dass betreffende Erinnerungen erst jetzt erzeugt werdenund den Klienten unnötig belasten. K.Die Konzentration auf behauptete dämonische Hintergründe entwerten die innerweltlichen Ursachen falschen Verhaltens und erschweren deren Verarbeitung. L. Die hier geschilderten Befreiungspraktiken stehen in der Gefahr, christlichen Glauben unsachgemäß mit schamanistischen und okkulten Vorstellungen zu vermischen. M.Die Dämonisierung fremder Weltanschauungenerschwert die sachliche und intellektuelle Auseinandersetzung mit deren Anhängern.
Biblische Dämonenaustreibung geschieht vor allem durch Gebet, Fasten und gelegentlich mittels Befehl im Namen Jesu (Mk 3,13ff; 9,29; Lk 9,1ff; Apg 16,16ff). Menschen können auch frei werden, wenn sie ihr Leben Jesus Christus anvertrauen.
1.5. Charismatische Leitungsstruktur und geistlicher Missbrauch
1.5.1. Geistlicher Missbrauch
Geistlicher Missbrauch ist gewöhnlich der Missbrauch eines Amtes für vorgeblich geistliche Ziele oder für einen eigenen Vorteil. Ken Blue präzisiert: „Geistlicher Missbrauch liegt dann vor, wenn eine Leiterpersönlichkeit, die geistliche Autorität über einen hat, diese Autorität benutzt, um Druck oder Zwang auszuüben, und damit dem ihm Untergebenen geistliche Wunden zuführt. … Menschen, die ihr geistliches Amt missbrauchen… sind für gewöhnlich derart narzisstisch oder darauf fixiert, etwas Großes für Gott tun zu wollen, dass sie es nicht einmal merken, wie weh sie ihren Opfern tun.“ 71Menschen sollen dazu gebracht werden, alle Aussagen und Verhaltensweisen ihrer Leiter fraglos zu akzeptieren, ebenso deren Autorität über das eigene Leben. Sicherlich gibt es diesen Amtsmissbrauch in jeder religiösen Vereinigung. Allerdings tendieren charismatische Leiter besonders leicht dazu, ihre Nachfolger zu manipulieren, weil ihnen in ihrem Umfeld eine außergewöhnlich gewichtige Stellung eingeräumt wird und weil sie sich in ganz besonderer Nähe zu Gott wähnen. Immer wieder deklarieren charismatische Leiter ihre eigenen Aussagen als göttliche Mitteilungenund machen den Segen Gottes vom Gehorsam ihrer Anhänger abhängig. Eine besondere Gefahr liegt in diesem Zusammenhang beim sogenannten Discipleship / Shepherding Movement (Jüngerschafts- und Hirtenbewegung). In durchaus positiver Motivation wird hier die strikte Unterordnung des Christen unter seinen geistlichen Leiter gefordert, der ihm detaillierte Vorgaben für jeden seiner Lebensbereiche macht. Die Gefahr, dass in einem solchen System keine Abhängigkeit gegenüber Gott sondern gegenüber dem geistlichen Führerentsteht ist groß. Der Geführte kann immer weniger erkennen, welche der Forderungen wirklich von Gott und welche lediglich von dem geistlichen Leiter stammen.
Das System unhinterfragbarer Unterordnung wird unterstützt durch die Ablehnung intellektueller Fragen und jeder Kritik. Rückfragen an leitende Personen oder deren Lehre wird als ungeistlich oder gar dämonisch betrachtet.Somit muss der Fehler bei dem Gemeindeglied liegen, das Bedenken äußert. Wer in der Gruppe verbleiben will, muss den Forderungen der Leiter entsprechend verändern. Letztlich mündet dieses System in einer Abhängigkeit gegenüber den menschlichen Repräsentanten Gottes.
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