Über die letzten Jahrzehnte hin betrachtet führte Gin weitestgehend ein Schattendasein gegenüber Spirituosen wie Wodka, Rum oder Whiskey, doch seit dem Jahrtausendwechsel bringt er sich wieder zunehmend in Erinnerung und hält seither verstärkt Einzug in die Bars. Daran hat nicht zuletzt die wieder auflebende Barkultur einen bedeutenden Anteil. Alten Cocktailrezepturen mit Gin wird wieder neues Leben eingehaucht und sowohl Cocktail-Connaisseure als auch die Bartenderzunft können sich dieser Tage an einem wesentlich breiteren Spektrum an Spirituosen, Likören, Bitters und Softdrinks aller Art erfreuen.
Sucht man jedoch nach wohlfundiertem Wissen über Gin, stellt sich alsbald heraus, dass Werke zu diesem Thema rar gesät sind. Ein Nachschlagewerk, das umfassend über Gin, Genever, Old Tom und zum Beispiel auch Wacholderbrände Auskunft geben könnte, fehlte bisher gänzlich. Dieser Mangel an einem Fachbuch über die Gesamtheit der Wacholderspirituosen ließ die Idee für dieses Buch entstehen, das sowohl die Lücke in den Büchersammlungen über Weine und feine Brände schließen als auch der neuen «E-Gineration» als ausgiebige Wissensquelle dienen soll.
Für jeden interessierten Genießer ist es zweifelsohne eine Bereicherung, mehr über das in Erfahrung zu bringen, was sich in den verschiedensten Wacholderspirituosen wiederfindet. Viele fragen sich irgendwann: Was kommt da außer Wacholderbeeren noch alles hinein? Woher kommen diese anderen Zutaten? Welche Geschichte steckt dahinter? Diese und viele andere Fragen sollen in diesem Buch beantwortet werden, denn es ist genau dieses Wissen, das bisher den Bartendern vorbehalten blieb. Es versetzt sie nämlich in die Lage, die jeweilige Spirituose besser zu verstehen und sie nicht nur entsprechend ihren Besonderheiten in Cocktails einzusetzen, sondern einfach besser zu «komponieren». Doch nun wird sich auch Ihnen die bislang geheime Welt des Gins mit all seinen Facetten öffnen.
Und über all dem weht ein Hauch von Geschichte, denn schließlich waren es Genever und später Gin, die die Cocktailära mit einläuteten und der Welt wahrhaft großartige Mixturen brachten. Man denke nicht nur an die große Zahl verschiedener Martini-Cocktails und die klangvollen Klassiker, sondern dabei auch an die großen Filme Hollywoods – schließlich wäre wohl kaum ein Medium besser geeignet gewesen, um die glanzvolle Welt der Cocktails zum Schillern zu bringen.
Denken wir nur kurz zurück an die Zeiten, in denen Wodka unter den klaren Spirituosen völlig dominierte, während man den Gin fast gänzlich aus den Augen verloren hatte. Doch nun ist er der neue Star auf dem Parkett und präsentiert sich mit frischem Design sowie überraschender Vielfalt, sodass im Rückblick auf die letzten Jahre rückhaltlos von einer Gin-Renaissance gesprochen werden kann.
Von Letzterer profitiert übrigens auch der Genever. Ebenfalls über lange Zeit beinahe in Vergessenheit geraten, erstrahlt auch er wieder in neuem Licht und gibt heute Gelegenheit, alte Cocktailrezepturen mit Genever neu zu erleben. Höchste Zeit also für eine Hommage an die Wacholderspirituosen!
Auf unserer Website www.gin-buch.definden Sie aktuelle Neuheiten, Trends, erweiterte Informationen zum Buchinhalt sowie spezielle Anregungen. Doch nun umgeblättert und eingetaucht in die Welt des Gins!
Karsten Sgominsky und Thilo Brauer
Der Gin verdankt sein Dasein dem holländischen Genever und dessen Geschichte reicht wiederum zurück bis ins 16. Jahrhundert. Aber wie kamen nun einstmals Wacholder und Spirituose zusammen und was geschah von da an weiter, was letztlich den Gin unserer Tage hervorbrachte? Diese Frage soll in diesem Kapitel beantwortet werden.
Destillation – die Anfänge
Schon in der Antike war die Wacholderbeere (lateinisch: Juniperus) als vielseitig einsetzbares Heilmittel bekannt und gehörte zum Repertoire der praktizierenden Ärzte, allen voran des Hippokrates (ca. 460 – 370 v. Chr.). Das erste komplexe europäische Werk über Medizin ist das griechische «Corpus Hippocraticum», eine Sammlung von Texten, die zu Lebzeiten von Hippokrates beginnend über die nachfolgenden Jahrhunderte erweitert wurde und unter anderem Hinweise sowohl zur äußeren Applikation als auch zur Einnahme von Beerenzubereitungen enthält, darunter solche mit Wacholder.
In den Jahrhunderten nach Christi Geburt wurde in Europa Medizin als Wissenschaft, abgesehen von einigen wenigen Einzelpersonen, fast überhaupt nicht beachtet, was im Hinblick auf die Bildung und allgemeine Versorgung auf diesem Gebiet nicht ohne Folgen blieb. Man halte sich das Europa der ausklingenden Spätantike (ca. 8. Jahrhundert n. Chr.) vor Augen: Ein Großteil der vorhandenen Schriften und Bücher fiel religiös motivierter Vernichtung und kriegerischer Zerstörung im Verlauf der Völkerwanderungen jener Epoche zum Opfer. Das dann nur noch spärlich vorhandene Kulturgut in Form von Schriftsammlungen über Medizin und Heilkunde war überwiegend in den Händen des Klerus. Kompetente Ärzte waren rar, denn diese wurden fast ausschließlich im arabisch-persischen Raum ausgebildet und deren Dienste konnten sich nur Herrscher, Adlige oder Reiche leisten. Das einfache Volk war also auf Wanderärzte und örtliche Bader angewiesen, die Knochenbrüche richten konnten, kleinere chirurgische Eingriffe vornahmen, Zähne zogen und andere Heilpraktiken wie die Zubereitung von Mixturen und Elixieren anwandten. Das ließ natürlich viel Raum für zahlreiche Quacksalber und Scharlatane, die nichts weiter kannten als Aderlass und Scheinbehandlungen, ihre «Wundermedizin» verkauften und sich dann schnell aus dem Staub machten, sofern sie nicht schon vorher enttarnt und erschlagen wurden.
Erst im frühen Mittelalter regte sich neues Interesse am umfangreichen Wissensschatz von einst und es entstanden zwei Zentren der Naturwissenschaften: Salerno im Südwesten Italiens am Tyrrhenischen Meer gelegen und Toledo im Zentrum der Iberischen Halbinsel.
Toledo profitierte von der Vielsprachigkeit seiner Bevölkerung und entwickelte sich dadurch zu einem Übersetzungszentrum arabischer und griechischer Schriften, die von den verschiedensten Wissenschaften handelten. Vornehmlich wurden sie ins Lateinische übersetzt und eine der namhaftesten Persönlichkeiten in diesem Genre war Gerhard von Cremona (1114 – 1187), dessen zahlreiche Arbeiten noch Jahrhunderte später Grundlage wissenschaftlicher Studien waren. Er war es auch, der das wohl bedeutendste medizinische Werk des Mittelalters dieser Region übersetzte: das bei Cordoba entstandene «al-Tasrif» des Abu I-Qasim Chalaf ibn al-Abbas az-Zahrawi (936 – 1013), alias Abulcasis, das dreißig Bände umfassend die arabischen und klassisch griechisch-römischen Lehren kombinierte und die europäische Medizin bis zur Renaissance mitprägte.
Das kosmopolitische, wissenschaftlich aufgeschlossene maurische Spanien war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Medizin neben anderen Naturwissenschaften in Europa zunehmend nach dem Vorbild morgenländischer Schulen akademisiert wurde.
Salerno sah ebenfalls keine Universitätsgründung an sich, aber die Einrichtung eines Benediktinerklosters im nahe gelegenen Montecassino, in dem die Schriften griechischer Ärzte wie Hippokrates und Galenos sowie Texte aus arabischen Kulturen zusammengetragen, übersetzt und angewandt, jedoch größtenteils vorerst nicht weiterentwickelt wurden. Konstantin der Afrikaner (Constantinus Africanus, 1017 – 1087) war einer der Protagonisten, die für den Aufstieg Salernos als medizinwissenschaftliches Zentrum durch Übersetzungen ins Lateinische als Kompendien verantwortlich zeichneten. Salerno wurde mit der Zeit durch Zuzug von Gelehrten und weiterer Anhäufung medizinischen Wissens zu einer bedeutenden Adresse für angehende Ärzte und Genesungsuchende. Hier entstand um 1150 eines der frühesten und bedeutendsten medizinischen Werke des Mittelalters aus europäischer Feder, das «Circa instans», das die Anwendung, Verarbeitung und Wirkung von fast 300 Arzneipflanzen – darunter auch Wacholder – beschreibt und dem Arzt und Lehrer Matthaeus Platearius (gest. 1161) als Verfasser zugeschrieben wird, was aber nicht gesichert ist.
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