Wenn er also die viel beachtete Person gewesen wäre, als die er vielfach dargestellt wird, so müsste er in irgendeinem Register zu finden sein. In Abwesenheit eines offiziellen Hinweises auf die Existenz des Sylvius de Bouve lässt sich derzeit nur schlussfolgern, dass es diese Person höchstwahrscheinlich gar nicht gab.
Genever regiert
Im 17. Jahrhundert gewannen Amsterdam und Rotterdam als Hafenstädte für internationale Ein- und Ausfuhr immer mehr an Bedeutung. Gewürze trafen aus den Kolonien in Ostasien ein, Getreide überwiegend aus dem Baltikum und Steinkohle zum Feuern der Brennöfen aus England. Brennereien hatten also eine stete Bezugsquelle für alles, was sie brauchten, und den Exporthafen für ihre Produkte direkt vor der Haustür. Zusätzlich lieferten die Getreiderückstände von der Destillation gutes Viehfutter, weshalb sich Viehmastbetriebe ansiedelten, die in der Stadt selbst unerwünscht waren. Daher zogen Destillerien in den Rotterdamschen Nachbarort Schiedam um, der sich zum Genever-Zentrum der Niederlande entwickeln sollte.
Wilhelm III. von Oranien-Nassau (1650 – 1702) – seit 1672 Regent der Niederlande und ab 1689 in Doppelmonarchie mit Queen Mary II König von England, Schottland und Irland
Das Destillieren war auch in England bekannt, allerdings in sehr kleinem Rahmen und größtenteils für den Hausgebrauch bzw. zu medizinischen Zwecken. Die 1638 gegründete «Worshipful Company of Distillers» erhielt per Petition von König Charles I. das Monopol für das Destillieren von Spirituosen in London und Umgebung. Dadurch wurde diese Sparte zwar fortan Regeln unterworfen, indem die anzuwendenden Destilliermethoden vorgeschrieben und kontrolliert wurden, jedoch konnte hier in keinster Weise vom Beginn einer ausgewachsenen Destillierindustrie die Rede sein, da die Ausübung eben nur einer verhältnismäßig kleinen Gruppe Privilegierter vorbehalten war.
England war also weiterhin ein Großabnehmer für holländischen Genever, dem auch die drei englisch-niederländischen Seekriege zwischen 1652 und 1674 um die Vormachtstellung im Seehandel kaum einen Abbruch taten. Es war November 1688, als der Regent der nördlichen Niederlande, Wilhelm III. von Oranien (1650 – 1702), mit seiner Streitmacht im Südwesten Englands landete und Anfang 1689 den englischen Thron bestieg, was in die Geschichte als «The Glourious Revolution» einging. Im Mai desselben Jahres erhielt Wilhelm III. vom Parlament die Erlaubnis, Frankreich, das von seinem Erzfeind Ludwig XIV. regiert wurde, formell den Krieg zu erklären. Dem folgte am 24. August 1689 ein Importverbot für französische Produkte. Das traf Frankreichs Wirtschaft nicht unerheblich, denn England war ein lukrativer Abnehmer für eine Vielzahl von Produkten, unter anderem auch für Brandy, der kurioserweise in Frankreich selbst verboten war.
Parallel dazu genehmigte der Stadtrat von Schiedam am 8. März 1690 die Gründung einer Gilde für Destillateure und Brennmeister, sicher mit Blick auf die sich potenziell stark erweiternden Handelsmöglichkeiten mit einem England, das fortan von einem Niederländer regiert werden würde.
Im Einklang mit dem Parlament erließ er 1690 den «Distilling Act», eine Verordnung, die dem Destillieren als Handwerk Vorschub leisten und durch minimale Steuersätze die Verwendung von englischem Getreide in großem Stil steigern sollte. Damit stieß er die Türen für eine in England ganz neue Industrie auf: Getreidealkoholherstellung. Grund dafür war nicht allein, dass er das Fehlen des französischen Brandys durch einheimischen Branntwein ausgleichen wollte; Wilhelm hatte weiter gedacht. Es sollten große landwirtschaftliche Überschüsse produziert werden, um Hungersnöten vorzubeugen, die einen König unpopulär machen würden. Die Destillierindustrie war ein guter Abnehmer für Überschüsse jeglichen Getreides, auch schlechten. Durch die Wiedereinführung von Subventionen für den Export von gemälztem Getreide fanden sich sogar ausländische Abnehmer, allen voran sein Heimatland. Landarbeiter, Hafenarbeiter, Müller, Bäcker, das Transportwesen etc. würden mitprofitieren. Zusätzlich käme durch Steuern und Lizenzgebühren mehr Geld in die Staatskasse, zumal er gleichzeitig die Abgaben für Bier und Ale verdoppelte. All diese augenscheinlich noblen Motive hatten einen politischen Hintergrund: Die meisten seiner Gegner im Parlament besaßen große Ländereien. Wenn jetzt die Bauern durch den Aufschwung größere Profite machten, so könnten jene Grundbesitzer höhere Pachten verlangen, somit mehr verdienen und den politischen Zielen Wilhelms gewogener werden.
Dass er dadurch indirekt das Monopol der «Worshipful Company of Distillers» und deren Qualitätsstandards aufhob, tangierte ihn sicher wenig. Mit ihm kam nämlich auch das Destillierwissen nach London und man orientierte sich am holländischen Genever, der nach wie vor importiert und jetzt sogar am englischen Hofe getrunken wurde. Den englischen Neu-Destillateuren fehlte natürlich das umfassende Wissen und die Erfahrung ihrer holländischen Berufskollegen, um originalgetreuen Genever herzustellen, weshalb bisher fast überall zu lesen war, dass sie einen Getreidebranntwein erzeugten, der so harsch und ungenießbar war, dass er zum Übertünchen dieses Geschmacks gesüßt worden sei. Wir sind jedoch zu einer anderen Auffassung gelangt: Genever war zum Ende des 17. Jahrhundert ein mit Wacholder und womöglich auch anderen Gewürzen aromatisierter Malzbranntwein («moutwijn»). Es ist aber fraglich, wenn nicht gar zu bezweifeln, ob dieser Moutwijn schon jenen Grad der Perfektion und Ausgeklügeltheit des Herstellungsprozesses aufwies, wie man es von ihm aus viel späteren Zeiten kannte bzw. heute kennt. War also der Genever nicht einfach ein aromatisierter Getreidebranntwein, der Farbe und Geschmack durch etwas Fasslagerung auf dem Transportweg erhielt? Träfe das zu, dann hätten die englischen Getreidedestillateure einen halbwegs vergleichbaren Getreidebrand herstellen können, denn auch in England wurde schon seit Langem Korn gemälzt, schon allein aus Gründen der Haltbarkeit. Die sogenannten «compound distillers», also «Aromatiseure», die Getreidealkohol von den Großdestillen kauften, um ihn zu aromatisieren und an den Konsumenten zu verkaufen, dürften keine großen Probleme gehabt haben, etwas zu produzieren, was dem Genever ziemlich nahe kam. Der Geschmack kann also unserer Ansicht nach nicht so schlimm gewesen sein, wie es bisher oftmals dargestellt wurde. Daher lässt sich mit fester Bestimmtheit die These aufstellen, dass jener Getreidebrand nicht gesüßt wurde, was zusätzlich durch das Faktum gestützt wird, dass Zucker zu jener Zeit noch ein Luxusgewürz war und kein alltägliches Süßungsmittel, wie wir es heute kennen.
Aus Genever wird Gin
Da nun der Genever durch Import des Originals und Eigenproduktion in England, besonders in London, verstärkt getrunken wurde und der Begriff somit Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch fand, erscheint es ganz natürlich, dass der für englische Verhältnisse etwas umständliche Name «Genever» bald zu «Geneva» und das Getränk später vom gemeinen Volk letztlich «Gin» genannt wurde. Erstmals wurde diese Verkürzung zu einem Einsilber 1714 in der politischen Satire «Bienenfabel» von Bernard Mandeville schriftlich erwähnt.
Nichtsdestoweniger existierte auch der Name «Geneva» parallel weiter. Und es sollte eines Tages der englische Gin sein, der seinen Vorfahren in den Schatten stellen würde und 200 Jahre später einen globalen Siegeszug antrat. Aber bis es soweit war, durchlief er ein düsteres Kapitel seiner Geschichte.
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