Als Wilhelm III. von Oranien 1702 starb, wurde, zurückkehrend zur englischen Blutslinie, seine Schwägerin als Queen Anne inthronisiert. Sie hatte den Ruf, Spirituosen nicht abgeneigt zu sein, und behielt Wilhelms Kurs nicht nur bei, sondern erließ ein Gesetz, das der Alkoholdestillation noch mehr Freiraum gab und vom Parlament verabschiedet wurde. Darin wurde zum verstärkten Verbrauch gemälzten Korns ermuntert und faktisch jedermann ein Freibrief zum lizenzfreien Destillieren gegeben, solange die Branntweine nicht auch im selben Haus getrunken wurden. Was einst durch Wilhelm als ökonomischer Geniestreich begann, sollte sich in Bälde zum sozialen Desaster entwickeln.
Durch das Fehlen jeglicher Qualitätsstandards bzw. einer Körperschaft oder Institution, die selbige überwachen würde, entstanden jede Menge kleiner Hinterhofdestillen. Viele Läden und Pubs betrieben eine solche, anfangs als zusätzliche, später als Haupteinnahmequelle. Dadurch floss Gin billig und en masse durch Londoner Kehlen, was eine Trunksucht überwiegend in den unteren Schichten der Bevölkerung zur Folge hatte. Erster Widerstand gegen diese Zustände regte sich Anfang der 1720er, als die Sterberate höher wurde als die Geburtenrate, ein Zustand, der die nächste Dekade fortwähren sollte. Selbst der Kolumnist Daniel Defoe – einst glühender Anhänger des Gins und der Korndestillation, die ökonomischen Aufschwung und Wohlstand brachte – sah sich um 1727 genötigt, sich nun gegen diese unkontrollierte Gin-Herstellung zu wenden und sie öffentlich anzuprangern.
In London gab es 1729 ungefähr 1.500 «compound distillers». Im krassen Gegensatz dazu gab es nur etwa zwei Dutzend Großdestillen, von denen man Getreidealkohol beziehen konnte. Trotzdem verdienten alle an den über 20 Millionen Litern Gin, die jährlich destilliert wurden, weshalb jetzt auch Monarchie und Regierung mitkassieren wollten. So wurde noch im selben Jahr der erste «Gin Act» erlassen, welcher hohe Lizenzgebühren und Steuern für aromatisierte Spirituosen einführte; Rohalkohol blieb nach wie vor steuerfrei. Damit wurden legitime Destillateure und Händler zur Kasse gebeten, was die meisten zu illegalem Destillieren trieb. In Teilen Londons, wie dem damaligen Armenviertel St. Giles, verkaufte um 1730 etwa jedes dritte Haus Gin. Mit der Illegalität kam unweigerlich auch der Absturz in der Qualität, und für Gin kamen Spitznamen wie zum Beispiel Madame Geneva, Mother’s Ruin oder Ladies Delight in Umlauf, die die Identität des Gins verkleideten.
Trotz der neuen finanziellen Bürden stieg in London die offiziell produzierte Menge an Gin im Jahr 1733 auf rund 40 Millionen Liter. Bei nur etwa einer halben Million Einwohnern entsprach das einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Jahreskonsum von 70 bis 80 Litern. Und das beinhaltete noch nicht die Mengen an illegal verkauftem Gin! Die Behörden wurden zunehmend auf den sozialen Verfall der ärmeren Bevölkerung Londons durch weitverbreiteten, maßlosen Spirituosenkonsum aufmerksam und erkannten die Lücken des Gin Acts von 1729, sodass er aufgehoben und durch den zweiten Gin Act ersetzt wurde. Dieser legte fest, wer ab sofort nur noch Gin verkaufen durfte, und schloss zum Beispiel Straßenverkäufer und normale Läden aus. Dieses nicht durchdachte Gesetz ließ weitere Lücken klaffen und so ging das Gin-Trinken ungehindert weiter.
Januar 1734. Judith Defour, Arbeiterin in einer Spinnweberei, holte ihre 2-jährige Tochter Mary vom kirchlichen Armenhaus, in dem das Kind schon seit Wochen in Obhut genommen wurde, für einen Besuchstag ab. Man hatte Mary schick zurechtgemacht und mit einem Petticoat, Strümpfen und Jacke ausstaffiert. Judith gab Mary jedoch nicht wie verabredet am Nachmittag wieder ab, denn etwas Grauenvolles geschah: Judith zog der kleinen Mary auf einem Feld die Kleider aus, um sie zu verscherbeln und vom Erlös ein paar Gläser Gin kaufen zu können. Als das Mädchen in der Kälte laut weinte, erdrosselte Judith ihre Tochter, ließ sie im Graben liegen und ging in eine Kaschemme, um Gin zu trinken. Dieser schockierende Vorfall rief tiefe Bestürzung in ganz London hervor und wurde von den Gin-Gegnern als abscheuliches Beispiel für Gewalt angeführt, die durch Alkoholsucht hervorgerufen wird, um im Parlament Gehör für ihren Anti-Gin-Kreuzzug zu finden.
Als der öffentliche Druck 1736 immer größer wurde, versuchte man es mit einer Notbremse. Der dritte Gin Act wurde verabschiedet, der völlig überzogene Lizenzgebühren, horrende Steuern und zusätzlich einschränkende Konditionen beinhaltete. Der verfolgte Zweck war, die Herstellung und den Konsum von Spirituosen durch drastische Auflagen stark zu minimieren, aber diese Maßnahme kam effektiv einem Verbot des Gins gleich. Das verursachte landesweiten Aufruhr (bis hin zu vereinzelten Unruhen) und für «Madame Geneva» wurden gespielte Begräbniszeremonien zelebriert.
Die Undurchführbarkeit dieses dritten Gin Acts wurde sehr bald offensichtlich. Die Kriminalität blieb unvermindert, Korruption stand auf der Tagesordnung und illegales Destillieren nahm überhand, da es an organisierten Strukturen fehlte, diesem auf die Schliche zu kommen und es nur durch Informanten aufgespürt wurde, die sie – falls nicht be- oder erstochen – verraten würden. Deshalb hob man diesen völlig missglückten Versuch von einem Gin Act 1742 wieder auf.
Ein Jahr später wagte man mit dem vierten Gin Act einen neuen Versuch, die Übel zu bekämpfen und gleichzeitig viele dringend benötigte Steuergelder einzunehmen. Aber selbst mit dieser neuen Gesetzgebung, die Abgaben und Einschränkungen vernünftiger gestaltete, war keine entscheidende Besserung der durch die «Gin Craze» («Gin-Begeisterung» bzw. «Gin-Verrücktheit») herbeigeführten Probleme zu verzeichnen. London produzierte in diesem Jahr eine exzessive Menge Gin: weit über 80 Millionen Liter.
Rettung nahte 1751. In Petitionen an das Parlament und auf Anraten ärztlicher Gutachterkommissionen, die umgehendes Einschreiten forderten, traten der «Tippling Act» und weitere Verordnungen in Kraft, die den Gin Act von 1743 in akzeptablen Maßen verschärften. Produktion, Verkauf und Verzehr wurden durch Steuererhöhungen und vor allem durch die Einführung von Schanklizenzen besser kontrolliert als je zuvor.
Einen nicht geringen Anteil an diesem letzten Gin Act, der die stark betroffenen Teile Londons wieder auf einen zivilisierten Weg bringen sollte, hatten Künstler und Publizisten, die auf ihre Weise die unhaltbaren Zustände dokumentierten. Der englische Maler und Grafiker William Hogarth hielt die Auswüchse und Destruktion des Alkoholismus in seinem Stich «Gin Lane» von 1751 fest. In der Mitte des Bilds sieht man eine entmenschte Mutter, die stumpfsinnig in der Tabakdose scharrt und dabei achtlos ihr Kind fallen lässt. Das Schild über der Eingangstür zur Kellerkneipe titelt: «Drunk for a Penny / Dead Drunk for Two Pence / Clean Straw for Nothing» («Betrunken für einen Penny / Sturzbetrunken für zwei Pence / Sauberes Stroh umsonst»). Ein sehr kraftvolles Stück Propaganda, das seine politische Wirkung nicht verfehlte.
«Gin Lane» von William Hogarth, 1751
Gin Craze – ganz London im Delirium?
Die Kapitelüberschrift spiegelt den Eindruck wider, den man durch die Beschreibungen der Londoner «Gin Craze»-Periode in der Regel gewinnt. Dieses Bild muss man jedoch relativieren.
London war kein einziger Moloch von Trinkern und Kriminellen aller Couleur. Diese Trunksucht und der damit einhergehende krasse soziale Verfall mit einem allgegenwärtigen «Gevatter Tod» spielten sich größtenteils in den Armenvierteln Londons ab und betrafen Männer wie Frauen sowie leider auch Kinder. Durch das plötzliche Fehlen jeglicher Qualitätsstandards und Kontrollorgane konnte jeder – selbst der gröbste Dilettant – Gin destillieren. Der oftmals auf plumpe Weise produzierte Gin war ungenügend rektifiziert und enthielt zumeist alles andere als Kräuter, Beeren und Gewürze. Auch wir haben uns gefragt, was denn verwendet wurde, das den Gin der Unterschicht so gesundheitsschädlich machte, und wurden unter anderem beim Weinessighersteller Beaufoy, James & Co. fündig, der eine «Rezeptur» jener Zeit wie folgt beschreibt:
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