Doch plötzlich kam es in Holland zur Krise. Zu viele Betriebe rangen um schwindende Absatzmärkte, da immer mehr holländische Kolonien wegfielen und Dry Gin immer stärker auf den Markt drückte. Ein Viertel aller Hersteller Schiedams ging bis 1884 in Konkurs. Die Industrialisierung zeitigte ebenfalls einen unvorhergesehenen Effekt: Durch modernere Produktionsmethoden, billigere Rohstoffe (wie Melassealkohol) und starke Konkurrenz aus Frankreich in der Hefeherstellung konnten fortschrittlich orientierte Produzenten schneller und kostengünstiger größere Mengen Genever herstellen als mit den traditionellen Methoden. Der Zusammenbruch der Malzweinindustrie Schiedams wurde 1897 durch die Einführung der Verbrauchssteuer auf Zucker weiter beschleunigt.
Expandierende Unternehmen wie Beefeater, Tanqueray und Gordon’s füllten mit ihren Gins schnell die entstandene Marktlücke aus, sodass sich um die Jahrhundertwende der Name «London Dry Gin» als fester Begriff für einen ungesüßten Gin in den Köpfen festgesetzt hatte.
Prohibition und Kriegsjahre
Der Begriff «Prohibition» ist im deutschsprachigen Raum zum Teil besser bekannt unter «Alkoholverbot in Amerika». Die Prohibition war ein Verbot der Herstellung, des Verkaufs, des Transports sowie der Ein- und Ausfuhr von Alkohol, der mehr als 0,5% Vol hat.
Ziel war es, den sozialen und gesellschaftlichen Problemen wie Trunksucht und Kriminalität entgegenzuwirken bzw. diese zu bekämpfen. US-Präsident Wilson legte gegen die Prohibition zwar sein Veto ein, trotzdem wurde sie 1919 vom Kongress beschlossen und trat 1920 in Kraft.
Das neue Verbot von Ausschank und Verkauf von Alkohol hatte selbstverständlich massive Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben. Bars und Clubs gingen als sogenannte «Speak Easy»-Lokale in die Illegalität. Eintritt erhielt man nur auf Empfehlung oder per Losungswort. Der Name «Speak Easy» – zu gut Deutsch «sprich leise» – ist darauf zurückzuführen, dass man nur gedämpft oder im Flüsterton miteinander sprechen sollte, um nicht die Aufmerksamkeit von Passanten, Nachbarschaft und Gesetzeshütern auf sich zu ziehen. Mit Alkohol beliefert und betrieben wurden die Speak Easys von Banden der organisierten Kriminalität. In New York soll es 1922 ca. 5.000 von diesen Lokalitäten gegeben haben. Bis 1927 steigerte sich diese Zahl Schätzungen zufolge auf 30.000 – 60.000.
Dieses Alkoholverbot erreichte sein Ziel in Bezug auf die Trunksucht nur teilweise, schlug aber in Sachen Kriminalität völlig fehl und hatte viel mehr einen umgekehrten Effekt mit fatalen Folgen. Es half nämlich der organisierten Kriminalität, sich strukturell erst richtig durch Schwarzbrennereien und Alkoholschmuggel zu entwickeln. Gangsterbosse wie Al Capone in Chicago oder die «Cosa Nostra» (und viel mehr noch die «Kosher Nostra») in New York verdienten Unsummen. Korruption war bei Polizei, Kontrollorganen und in der Politik gang und gäbe. Für private Partys sowie für die Versorgung der Speak Easys mit Gin diente sogenannter «Badewannen-Gin»: Rohalkohol wurde in das größte verfügbare Haushaltsgefäß, die Badewanne, gegossen und mit Wacholderessenzen und anderen künstlichen Aromatika versetzt. Aufgrund mangelnder Strukturen und Mittel, später zusätzlich verstärkt durch die amerikanische Wirtschaftskrise ab 1929, war die Prohibition von Anfang an nicht wirksam umsetzbar. Sie wurde nicht umsonst als «The noble experiment» («Das ehrenhafte Experiment») bezeichnet. Im Dezember 1933 wurde unter der Präsidentschaft von Franklin D. Roosevelt das Gesetz zur Prohibition wieder aufgehoben, es aber den einzelnen Staaten der USA überlassen, es beizubehalten oder aufzuheben. Bis 1948 war die Prohibition in drei Staaten immer noch gültig.
Nach Aufhebung des Alkoholverbots ging das Trinken von Alkohol und (Gin-)Cocktails in gewohnter Manier weiter, jetzt aber eben wieder legal und mit qualitativ besseren Spirituosen.
Als die Prohibitionszeit begann, wurden viele Bartender brotlos und eine baldige Zurücknahme des Verbots war nicht absehbar. Deshalb machten sich nicht wenige von ihnen auf den Weg nach Europa, wo sie offiziell ihrem Beruf nachgehen konnten, und brachten dadurch die Barkultur verstärkt in die Alte Welt. Gin war groß in Mode und in Cocktails sehr gefragt. Doch im Wandel der Zeiten und auf der steten Suche nach Neuem ermattete in England das Interesse an Cocktailpartys schon gegen Ende der 30er-Jahre. An ihre Stelle traten jetzt Sherry-Empfänge. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs fiel für Cocktails gänzlich der Vorhang. Gin wurde nur noch in stark reduzierten Mengen hergestellt. Alle Getreidekapazitäten waren der organisierten Versorgung der Truppen und Zivilbevölkerung zugeführt worden, denn der Seekrieg verursachte unübersehbare Lücken. Gin gab es nur noch rationiert und unter dem Ladentisch. Cocktails waren ausschließlich noch jenen möglich, die entweder genügend Vorräte hatten oder privilegierten Zugriff auf die Alkoholbestände.
Über dem Ärmelkanal in den Niederlanden und Belgien sah man hingegen eine Wiederholung dessen, was man teils schon aus dem Ersten Weltkrieg kannte: Deutsche Besatzungstruppen beschlagnahmten Destillieranlagen, um diese einzuschmelzen und der Rüstungsindustrie zuzuführen. Dieses Vorgehen beeinträchtigte zusätzlich die ohnehin schon über die letzten Jahrzehnte rückläufige Genever-Industrie, zumal internationale Absatzmärkte fehlten, denn Exporte waren zu Zeiten des Krieges wohl gänzlich unmöglich.
So begab es sich, dass ab der Nachkriegszeit Genever ein Produkt von rein regionaler Bedeutung wurde, das Interesse am Old Tom Gin stark zurückgegangen war und die internationale Showbühne ganz dem London Dry Gin gehörte.
Gin-Renaissance
Auch unter den britischen London-Dry-Gin-Herstellern hatte der Zweite Weltkrieg im wahrsten Sinne des Wortes seine Opfer gefordert. Mit den 1950er-Jahren lebte der Gin aber wieder auf und hatte seinen Höhepunkt in den 1960ern, als er die meistgetrunkene weiße Spirituose der westlichen Welt war.
Aus diesem Grunde wirkt es mehr als paradox, dass die Filmfigur des britischen Agenten James Bond nicht das Nationalgetränk Großbritanniens als Martini-Cocktails trinkt, sondern Wodka Martinis. Superagent 007 wurde vom britischen Autor und Gin-Liebhaber Ian Fleming erfunden, der James Bond in seinen Büchern, die von einer britischen Produktionsfirma verfilmt wurden, Gin Martinis trinken ließ. Die Voraussetzungen konnten britischer nicht sein, warum also Wodka statt Gin? Die einzige Erklärung dafür: Produktplatzierung für Smirnoff Wodka. Dass die James-Bond-Filme der 60er-Jahre den Trendwechsel «pro Wodka – kontra Gin» einläuteten, wäre eine kühne Behauptung. Gänzlich abwegig ist sie dennoch nicht, hält man sich den Welterfolg der James-Bond-Filme vor Augen. Immer mehr Cocktailrezepturen enthielten Wodka und ab den 70ern hatte der Wodka den Gin weltweit fast völlig verdrängt.
Erst Mitte der 90er-Jahre besinnt man sich wieder der traditionellen Barkultur. Gin steht wieder höher im Kurs und feiert eine dezente Revitalisierung. Mit seiner eigentlichen Renaissance im großen Stil ließ er sich aber noch bis zum Jahrtausendwechsel Zeit. Allein in den letzten Jahren sind unglaublich viele neue und vor allem hochwertige Gins auf den Markt gekommen, die nicht nur eine Neubelebung des mit anderen Spirituosen übersättigten Markts herbeiführten, sondern in denen auch durch filigrane Herstellungsmethoden eine Vielzahl von Aromaträgern zur Anwendung gelangt, die das großartige Potenzial des Gins zu neuen Höhen emporklimmen lässt. Wo man in den meisten Bars noch vor nicht allzu langer Zeit höchstens drei bis vier verschiedene Gin-Sorten sah, sieht man heute oftmals mehr Gins als Whiskeys oder Wodkas im Angebot. Gleichzeitig hat sich auch sehr viel in Sachen Tonic getan. Neue, geschmacklich sehr unterschiedliche Tonics ermöglichen zusätzliche Variationen, sodass man heutzutage einen Gin Tonic auf mannigfaltige Weise probieren und genießen kann.
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