Er musste ein Taschentuch ziehen und sich die Nase schnäuzen, bevor er wieder nieste.
»Nichtadmiral Nelson«, begann Thariel, »haben Sie vielen Dank dafür, dass Sie mich gerettet haben.«
»Gern geschehen.«
»Aber darf ich noch eine Frage stellen?«
»Natürlich, du bist doch kein Gefangener!«
»Gut, dass sie das ansprechen, denn strenggenommen bin ich genau das.«
HATSCHI! HATSCHI! HATSCHI!
»Wie kommst du darauf?«
»Im Wesentlichen wohl, weil ich an den Fahnenmast gebunden bin.«
»Das macht dich zu einem angeschnallten Mann, nicht zu einem Gefangenen.«
»Aber ich kann mich nicht befreien.«
»Das sollst du ja auch nicht!«
HATSCHI!
Nichtadmiral Nelson zog wieder das Taschentuch hervor, »wie soll ich dich denn sonst auf dem Sklavenmarkt in Mammama verkaufen können?«
Er lächelte, aber nicht auf eine fiese Art, sondern auf eine aufrichtig erstaunte. Anscheinend wunderte er sich über die Naivität seines Mitreisenden.
HATSCHI!
Er versuchte, das Positive zu sehen. Er kam schnell voran. Für die Strecke, die Thariel nun auf dem Blumenmeer in wenigen Tagen zurücklegte, hätte er zu Fuß Wochen gebraucht.
Nichtadmiral Nelson zeigte sich außerdem als großzügiger Begleiter, der Thariel am reichen Anekdotenschatz seiner Abenteuer teilhaben ließ.
»Ich bin auch Erfinder«, meinte er eines Abends, als sie gemeinsam die Sonne beobachteten, die hinter dem Blumenmeer unterging.
»Kenne ich etwas von dir?«
»Bestimmt!« Zufrieden kaute Nichtadmiral Nelson auf einem Blumenstängel, »zum Beispiel das O-Boot.«
Thariel hatte davon noch nie etwas gehört.
»Das O-Boot!«, wiederholte Nichtadmiral Nelson lauter, als ob es ein Problem mit den Ohren war.
»Kenne ich nicht, was ist das?«
Ein leicht gekränktes Lachen entfuhr der Kehle des Kapitäns.
»Nun, das ist im Grunde ein Schiff, nur, dass es nicht auf dem Wasser hinweggleitet, sondern über ihm schwebt!«
»Es berührt das Wasser nicht?«
»Ganz genau! O-Boot.« Nichtadmiral Nelson konnte den Stolz auf seine Erfindung nicht verbergen.
»Und wo ist dein O-Boot?«
»Du willst es sehen?«
»Ja.«
Nichtadmiral Nelson lief mit seinen Holzzähnen und breiter Brust zu einer großen Truhe. Begleitet von einigem Seufzen und Ächzen, wuchtete er ein etwa drei Fuß langes Gerät hervor, das aus einem Holztorso bestand, der im vorderen Bereich von einem Querbalken und weiter hinten von einem kürzeren Querbalken gekreuzt wurde. Die Fläche dazwischen wurde von aufgespannten Fellen und Netzen ausgefüllt. Ganz hinten befanden sich Rotorblätter, ebenso ganz vorne, nur waren diese kleiner. Am Torso hingen Schlaufen herab, wohl um Beine und Arme einzuhaken. Das Ganze wirkte wie ein Gerät, mit dem man sich auf Volksfesten blamierte, weil es vor aller Augen direkt nach dem Sprung von der Brücke zerbricht und man im Wasser landet.
»Beeindruckend«, log Thariel.
»Nicht wahr«, freute sich Nichtadmiral Nelson, dessen Niesen und Augentränen mittlerweile fast aufgehört hatten.
»Aber wo soll das eingesetzt werden?«
»Eines Tages, du wirst schon sehen, wird es Schwebhafen geben, die von O-Booten angeflogen werden. Von gewaltigeren O-Boote als meinem, die werden von mächtigen Flugtieren über den Himmel gezogen werden. Das hier ist ja nur ein Prototyp.«
»Wenn du das sagst!«
»Du wirst schon sehen! Ich habe meine Pläne dazu schon an alle Städte geschickt. Das Schwebhafen-Zeitalter steht kurz bevor!«
»Aber dann bist du arbeitslos, wenn niemand mehr ein Schiff braucht!«
Nichtadmiral Nelson musste lachen. »Verstehst du es wirklich nicht? Ich werde dann Kapitän eines Schwebzeugs! Da oben am Himmel gibt es keine Pollen, da entkomme ich meinen Allergien!«
Er sprach oft und gerne über diese kommende Zeit und auch wenn Thariel wusste, dass das nur die Träume eines alten Spinners waren, hörte er ihm gerne zu.
In den Nächten, wenn Thariel in die Sterne schaute oder den kosmischen Wasserfall beobachtete, der sich vom Mond aus über den Horizont ergoss, 7und sich die Welt ansonsten in Schweigen hüllte (vom Schnarchen des Nichtadmirals Nelson abgesehen), konnte er fast vergessen, dass seine Lage alles andere als glücklich war. Andererseits fragte er sich, ob er überhaupt noch leben würde, wenn er tatsächlich den Landweg genommen hätte. Die Karten, die im Dorf verwendet wurden, um seine Reise zu planen, hatten sich nämlich als hoffnungslos veraltet herausgestellt. Nichtadmiral Nelson hatte das prustend vor Lachen festgestellt, als er sich die Route einmal angesehen hatte.
»Offenbar ist diese Karte zur einen Hälfte vollkommen veraltet«, meinte er, »denn zwei der Länder, durch die du reisen solltest, sind schon vor Jahrhunderten untergegangen. Die Königreiche Friedensland und Herzensgut wurden von Zombies überrannt, die noch heute dort hausen. Und ich spreche hier nicht von diesen kultivierten Zombies, die große Musiker, Poeten und Tänzer hervorgebracht haben, ich spreche von primitiven Tötungsmaschinen. Kein Mensch, der bei Verstand ist, setzt da einen Fuß rein.«
»Oh.«
»Ja, das ist absolut oh!«
Irgendwie empfand es Thariel als angemessen, einige Sekunden verstreichen zu lassen, bevor er weitersprach.
»Und die restliche Karte, die andere Hälfte?«
Nichtadmiral Nelson studierte sie genau. Er fuhr mit dem Messer die Einhornwälder, die Ödnis von Quarm, die Gebirge am Tee, den Fluss Tee und schließlich die Anhöhe der Tauburen nach, auf deren höchsten Punkt Mammama lag.
HATSCHI!
»Nun«, er räusperte sich beinahe verlegen, »wie soll ich es sagen, die Einhornwälder, die Ödnis und all das andere, das gibt es alles nicht.«
»Was heißt das?«
»Ausgedacht. Frei erfunden. Nicht echt. Betrug!«
Thariel hatte sich selbst schon über diesen Teil der Karte gewundert, aber wollte den Bürgermeister bei der Abreise nicht vor den Kopf stoßen. Offensichtlich gab es nur eine einzige Landkarte und auch die nur zur Hälfte und veraltet. Also hatte irgendwer nachgeholfen. Man sah deutlich, dass all diese Teile der Karte mit unsicherem Strich und in blauer Farbe eingezeichnet waren, während die älteren Teile aus vergilbtem Braun bestanden.
»Wie wäre meine Reise stattdessen verlaufen?«
Nichts zwischen diesem lautlosen Blumenmeer und den fernsten Sternen störte die beiden in ihrem Gespräch.
»Abgesehen davon, dass du schon im früheren Königreich Immergut auf grausamste Art bei lebendigem Leibe gefressen worden wärest?«
»Abgesehen davon, ja.«
»Und auch abgesehen davon, dass du nach dem Königreich Immergut auch im Königreich Liebeundfrieden auf grausamste ...«
»Ja! Auch abgesehen davon.«
»Nun, dann wäre die Einödige Tiefebene gekommen, die aus vielen kleinen Lava-Geysiren in einem riesigen Geysir besteht, der die Einödige Tiefebene ist. Du wärst also verbrannt.«
»Und danach?«
»Also abgesehen davon, dass …«
»Ja!«
»Danach wärst du am Worschworsch-Fluss angekommen, den du hättest überqueren müssen. Ein scheinbar ruhiges Gewässer, kniehoch und leicht zu durchwandern. Das Problem ist nur, dass er extrem wütend wird, wenn er geweckt wird!«
»Er schläft?«
»Immer. Außer, wenn jemand durch ihn durchläuft, dann wacht er auf und aus diesem sanften Gewässer wird ein reißender Gebirgsfluss, der nicht eher Ruhe gibt, bis du leblos davontreibst.«
»Und danach?«
»Also abgesehen …«
»Ja!«
»Mit hoher Wahrscheinlichkeit wärst du in die Hände von Südmoor-Riesen geraten, die Menschen jagen, weil die Nägel des menschlichen kleinen Zehs als potenzfördernd gelten. Oder du wärst auf der Mamukischen Anhöhe von Mausfaltern attackiert worden, deren Nestern du zu nahegekommen wärst, was sich nicht vermeiden lässt, weil die Mamukische Anhöhe ihr Brutgebiet ist. Und danach wärst du in der Wüste der Stille vor Stille gestorben!«
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