Als er verschlafen vor dem Spiegel stand, entfuhr ihm ein Schrei. Über seinem Kopf hing eine Regenwolke. Er schlug nach ihr, als wäre sie eine lästige Fliege, aber seine Hände gingen wie durch Nebel. Er rannte hin und her und machte Liegestützen. Er stellte sich auf den Kopf und kippte sich Wasser in den Nacken. Nichts davon beeindruckte die Regenwolke, die weiter über ihm schwebte. Er wusste nicht, was er noch tun sollte und öffnete darum das Fenster.
»Lydia!«, schrie er über das Dorf hinweg, »Lydia!«
Als sie kurz darauf bei ihm ankam, stand Thariel hinter einem Schrank im Flur, so dass sie ihn nicht sofort sehen konnte.
»Versprichst du mir, nicht zu schreien, wenn ich dir jetzt etwas zeige?«, wollte er wissen.
»Was ist los?« Sie klang verärgert, weil er noch nie zuvor über das ganze Dorf hinweg nach ihr gerufen hatte.
»Es ist alles in Ordnung, keine Sorge, es ist nur so, dass ...«
»Komm hinter dem Schrank hervor!«, unterbrach sie ihn.
»Es ist nur so«, setzte er wieder an, konnte seinen Satz aber nicht beenden, weil dieser in Lydias Schrei unterging. Sie hatte nicht mehr warten wollen und war zu ihm gelaufen. Nun torkelte sie mehrere Schritte zurück und Thariel trat in den Flur hinaus.
Über ihm regnete es.
»Nicht so laut, die Nachbarn!« Er presste dabei den Finger vor den Mund und Lydia ging dazu über, nur noch aufgeregt zu atmen, bis ihr schwindelig wurde und sie sich setzen musste.
Eine Weile saß sie nur da und trank das Wasser, das Thariel ihr gebracht hatte. Dann meinte sie mit ruhigerer Stimme: »Was ist das?«
»Keine Ahnung.« Thariel schüttelte den Kopf.
Als sich Schritte näherten, versteckte er sich erneut hinter dem Schrank und setzte sich erst wieder zu Lydia, als diese sich entfernt hatten.
»Lass mich mal sehen.«
Sie betrachtete die Wolke aus allen Richtungen. Nichts unterschied sie von gewöhnlichen Regenwolken, außer, dass sie viel kleiner war. Lydia blies dagegen, ohne dass es eine Wirkung zeigte. Dann nahm sie einen Holzlöffel und schlug damit in die Wolke, durchdrang sie aber ebenfalls wie Nebel. Sie hielt eine Kerze dicht an sie ran und ließ das erst bleiben, als sie Thariels Haare ansengte. Schließlich nahm sie wieder Platz.
»Da hängt eine Regenwolke über dir«, murmelte sie.
Er nickte. Danach saßen sie wieder da und versuchten beide, diese Tatsache zu verarbeiten. Manchmal hob Thariel die Hand und wollte seinen Begleiter wegschieben, als sei er ein Teller Suppe, von dem man nicht weiter essen möchte. Natürlich gelang es ihm nicht. Obwohl es sich um eine Regenwolke handelte, wurde der Boden um Thariel herum nicht nass, was ihm erst jetzt auffiel. Es war Lydia, die als erste damit begann, die Sache nüchterner zu betrachten.
»Wo kannst du die Wolke herhaben?«, fragte sie, »gab es das schon öfter in deiner Familie?«
»Davon wüsste ich nichts.«
»Oder hast du sie dir in den Sümpfen geholt?«
»Da bin ich schon mein ganzes Leben lang unterwegs, warum sollte das ausgerechnet jetzt passieren?«
»Oder hast du mit grüner Magie experimentiert?« 1
»Natürlich nicht.« Er verzog sein Gesicht, wie konnte sie das nur glauben.
»Oder ist es vielleicht ein«, sie stockte und schwieg schließlich. Beide wussten, was sie sagen wollte.
Thariel schüttelte nervös den Kopf und sprach das schlimme Wort auch nicht aus: »Warum sollte das ein … sein?«
»Stimmt, das ist keiner!«
»Das würde ich ausschließen.«
»Ich auch.«
»Absolut!«
Lydia ging danach Salben und Kräuter besorgen, um die Wolke auf diese Weise zu vertreiben. Aber auch die brachten außer einem üblen Hautausschlag nichts. Thariel wagte sich nicht aus dem Haus und spähte nur vorsichtig aus dem Fenster. Er sah mehrere Bewohner Holz in einen Schuppen tragen und zwei Kinder, die mit einem Reif spielten, den sie über den Boden rollten.
»Wenn es aber doch ein, naja ... wäre«, begann Lydia, »dann ...«
»Ist es nicht!«, fiel Thariel ihr ins Wort, »ich fühle mich einfach etwas unwohl. Ich habe Fieber und Husten.« Er gab ein Röcheln von sich, das wohl ein Husten sein sollte. Lydia fasste gegen seine Stirn, die kalt wie eine Winternacht war. Sie nickte unbestimmt.
»Ich lege mich ins Bett, wenn ich wieder gesund bin, ist das da oben weg«, kündigte Thariel an und schleppte sich die Treppe hinauf, ohne dass Lydia ihm dabei half.
Kurz darauf lag er da und lauschte auf den Regen über seinem Kopf. Doch der machte keinen Lärm. Es regnete geräuschlos. Irgendwann gelang es Thariel tatsächlich einzuschlafen.
Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, doch als er aufwachte, wollte er sofort aufstehen und in den Spiegel schauen. Aber vor dem Bett saß Lydia und schüttelte nur den Kopf. Da ließ er sich wieder auf den Rücken fallen. Er fragte sich, wie die Dorfbewohner wohl reagieren würden, wenn er sich ihnen mit einer Regenwolke präsentierte. Am besten würde er so tun, als sei das vollkommen normal. Aber er wusste, dass das nicht funktionieren würde. Menschen reagierten im Allgemeinen sehr misstrauisch auf plötzliche Veränderungen. Ganz besonders in abgelegenen Sumpfdörfern, wo jede Veränderung als Bedrohung betrachtet wurde.
Lydia und er versuchten sich ganz normal zu unterhalten. Sie vermieden es dabei, die schlimmste Möglichkeit auszusprechen, dass es sich doch um einen, nun ja … um einen … wenn es sich um so was handeln würde. Solche Bestrafungen nahm Gott Thromokosch nämlich persönlich vor.
»Du hast aber wirklich nichts angestellt, oder?«, fragte Lydia und schaute Thariel tief in die Augen.
Er schüttelte den Kopf.
»Wir müssen zu meinem Vater gehen!«
»Auf keinen Fall«, kam es entsetzt zurück und Thariel verschränkte die Arme.
»Aber er ist ein Kräuterhansel!« 2
»Wir haben doch schon was mit Kräutern ausprobiert.«
»Mein Vater hat ganze Regale mit Cremes, Wurzeln, Knäueln, Mehl, Kräutern, Blättern, Wassern, Sand, Pfeffer, Gewürzen und Disteln. Er hat bestimmt ein Gegenmittel!«
»Ich weiß nicht«, blieb Thariel unschlüssig.
»Es ist wirklich toll, was er alles heilen kann. Vor kurzem hatte er eine Elchfee im Wald gefunden, verletzt und dem Tode nahe. Er schleppte das schwere Wesen zu uns und braute ein Heilmittel zusammen. Schon am nächsten Mittag konnte die Elchfee wieder entlassen werden.«
»Ach, dann hat sie euren Gartenzaun niedergetrampelt?«
»Ja, und jetzt komm! Wer weiß, vielleicht wird eine Heilung immer schwerer, je länger man wartet.«
Immer noch zaudernd, ergriff er die ausgestreckte Hand und sie machten sich auf den Weg.
Torsten Sampftmeier war ein ruhiger und freundlicher Witwer, leicht übergewichtig und etwas gedrungen. Er blickte aus fröhlichen Augen in die Welt hinaus. Als Kräuterhansel genoss er viel Ansehen im Ort. Seine Tochter und Thariel huschten zwischen dem Wolkenwald und den Rückseiten der Häuser entlang, um nicht gesehen zu werden. Als sie schließlich vor der Tür standen und anklopften, hielt Lydia Thariels Hand und flüsterte ihm erleichtert ins Ohr.
»Jetzt wird alles gut!«
Er nickte.
Schritte näherten sich, die Türe wurde geöffnet und der mächtige Leib von Herrn Sampftmeier, wie immer in einen großzügigen, weißen Kittel gehüllt, erschien.
»Papa, wir haben ein Problem«, begann Lydia und kam nicht weiter, weil ihr Vater sofort zu schreien begann, als er die Regenwolke sah. Er zog seine Tochter zu sich und weil sie und Thariel sich noch an den Händen hielten, stieß er ihn weg.
»Du wirst unser Haus nicht mehr betreten, bis das geklärt ist! Und du wirst meine Tochter nicht mehr sehen, bis das geklärt ist!«, brüllte er mit wutrotem Kopf.
Thariel stolperte und fiel in eine Pfütze. Die Tür knallte zu.
Er stand nicht sofort wieder auf, sondern stellte erstaunt und entsetzt fest, wie schnell ein Dorf zum Geisterdorf werden kann. Als die Bewohner die Regenwolke sahen, reagierten die Mütter am schnellsten. Hektisch zerrten sie ihre verdutzten Kinder in die Häuser, als nächstes packten die Waschweiber und Sumpfangler ihre Sachen und verschwanden ebenfalls hinter zuschlagenden Türen. Als schließlich auch die Pilzsammler und Himmelwaldgänger zu ihren Familien eilten, gab es schon keine Fenster mehr, vor denen keine schweren Vorhänge hingen. Über dem dampfenden Sumpf strahlte die Sonne blass durch die Nebel, keine Wolke stand am Himmel und dennoch regnete es unaufhörlich auf Thariels Kopf. Lydia stand am Fenster und warf ihm einen Handkuss zu, als er zu ihr aufblickte. Kurz darauf war der Vorhang zugezogen.
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