Langsam kam er zurück und ging vor Hannah in die Hocke. »Nimm dieses Hrakan. Es stammt aus Vargor und nicht aus meiner Heimatwelt. Jacobs Organisation kennt diese Waffe mit Sicherheit von anderen Angriffen der Verbannten. Wenn er es bei dir findet, stellt das für meine Heimatwelt keine Gefahr dar. Außerdem ist mir etwas wohler, wenn ich weiß, dass du bei deinen zukünftigen, nächtlichen Ausflügen eine Waffe bei dir trägst.«
Hannah sah wie betäubt auf die Waffe in den langen, schlanken Fingern. Es war eine ähnliche Waffe wie die, mit der sie ihren Angreifer verletzt hatte. Bei der Erinnerung daran schauderte es sie. Mit einem Mal wusste sie auch, dass es dieselbe Waffe war, mit der Hralfor den schwer verletzten Verbannten getötet hatte.
Hralfor, der ihre Gedanken erriet, bekam einen bekümmerten Gesichtsausdruck. »Ich habe es inzwischen gereinigt. Aber vielleicht finde ich auch etwas anderes, das ich dir hierlassen kann, wenn du es überhaupt noch möchtest.«
Hannah sah ihn verdutzt an. Dann verstand sie. Hralfor befürchtete, dass sie ihn wegen der Erinnerung an seine Tat erneut als eine Art Monster ansehen würde. Empört funkelte sie ihn an.
»Nein, ich möchte nichts anderes, ich möchte dieses – wie hast du es genannt – Hrakan? Und wenn du glaubst, ich bekomme gleich einen Anfall, weil ich mich daran erinnere, dass du einem miesen Mistkerl gegeben hast, was er verdient hat, dann hast du mich in den letzten Tagen wirklich über-haupt nicht richtig kennengelernt. Also sei nicht immer gleich so empfindlich, das hast du überhaupt nicht nötig! Du bist kein Monster, und nichts auf der Welt wird mich je dazu bringen können, so etwas von dir zu glauben.«
Und damit riss sie ihm das Hrakan aus der Hand und sah ihn böse an.
Bei ihren Worten erschien ein fasziniertes Lächeln auf Hralfors Gesicht. Doch als sie ihm die Waffe abnahm, zuckte er kurz zusammen. »Vorsicht! Es ist ziemlich scharf. Du brauchst noch eine Scheide dafür.«
Kopfschüttelnd erhob er sich, um nun auch noch die Hrakanscheide zu suchen. Dieses Mädchen hatte manchmal entschieden zu viel Temperament. Was würde er dafür geben, Hannah seiner Mutter vorstellen zu können. Sie neigte ebenfalls zu Temperamentsausbrüchen, vor allem, wenn es um Ungerechtigkeiten ging. Sie hätte Hannah geliebt wie eine eigene Tochter, da war er sich sicher.
Bei dem Gedanken an seine baldige Heimreise kehrte die Leere in seinem Inneren zurück. Es blieb nun nicht mehr viel Zeit.
Als er mit der Scheide wieder zu Hannah zurückkam, sah sie in seinen Augen, dass der Zeitpunkt des Abschieds nun endgültig gekommen war. Schnell schluckte sie den eisigen Kloß in ihrer Kehle herunter und stand langsam auf. »Wie kommst du aus dem Haus? Du wirst wohl nicht einfach nur aus der Haustür marschieren, oder?«
Hralfor schüttelte den Kopf. »Ich dachte eher an die kleine Tür, die im Schatten des Gartens liegt.«
Hannah nickte. »Die Tür, die von der Garage in den Garten führt. Du hast recht, sie liegt völlig im Dunkeln. Wenn sie nicht irgendwelche Infrarotkameras benutzen, könnte es klappen.«
»Was ist das?«, fragte Hralfor und sah sie beunruhigt an.
»Damit kann man die Körperwärme erkennen und ein Lebewesen auch in der Dunkelheit sehen«, erwiderte Hannah.
»Verdammt, das funktioniert dann genauso wie vargérische Augen. Dann habe ich keine Chance, unbemerkt zu verschwinden.« Düster starrte Hralfor vor sich hin.
Hannah sah ihn grübelnd an und kaute auf ihrer Unterlippe. »Vielleicht können wir sie austricksen. Was, wenn ich mich in einen Umhang werfe und als Erste das Haus verlasse? Vielleicht fallen sie ja darauf rein und folgen mir. Dann kannst du etwas später rausschlüpfen.«
Hralfor hob den Kopf und sah sie liebevoll an. »Du bist einmalig. Es könnte klappen. Auf jeden Fall wird es nichts schaden.«
Er hielt sie bei den Schultern und sah aus wie ihr kleiner Bruder, wenn er sich gerade einen Streich ausgedacht hatte. Bei seinem Anblick wurde ihr das Herz noch schwerer. Sie schniefte leise. »Ich glaube aber nicht, dass ich deine Art, dich zu bewegen, auch nur annähernd nachmachen kann. Die müssten blind sein, um nichts zu merken.«
»Du hältst dich einfach geduckt und bleibst immer zwischen den Sträuchern«, schlug er vor. »Das lenkt sie vielleicht etwas ab. Wie gesagt, es kann zumindest nichts schaden.«
»Also gut.« Hannah seufzte. »Dann durchsuche ich mal die Klamotten meiner Verwandtschaft nach irgendeinem Umhang. Ich glaube, im Keller habe ich eine Kiste mit Faschingssachen gesehen. Einer der Jungs war sicher mal Batman oder irgend so was.«
Als Hannah die Kiste durchwühlte, überkam sie ein nervöses Kichern. Es gab tatsächlich einen Umhang. Ganz offensichtlich hatte ihn der Mann ihrer Cousine getragen.
Hannah verschluckte sich beinahe vor Lachen, als sie sich vorzustellen versuchte, wie er mit seinem dicken Bauch wohl in diesem Zorro-Kostüm ausgesehen haben musste. Aber für ihre Zwecke war er genau richtig. Sie würde ihre dunkle Kapuzenjacke darunter tragen und den Kopf unter der Kapuze verstecken. Als Hannah sich mit ihrer Beute wieder zu Hralfor begab, stand er bereits vor der Tür, die zur Garage führte. Er trug wieder den Umhang, den er bei ihrer ersten Begegnung umgehabt hatte und wirkte auf einmal fremd und bedrohlich.
Das war nicht mehr ihr vertrauter Freund, mit dem sie gemeinsam Spaghetti gekocht hatte. Es versetzte ihr einen leisen Stich. Er konnte es wohl gar nicht mehr erwarten, sie zu verlassen. Doch dann ärgerte sie sich über ihre eigenen Gedanken. Durch ihr Ablenkungsmanöver würde es sowieso schon später als geplant werden. Kein Wunder, dass er es hinter sich bringen wollte.
Schnell lief sie in ihre Wohnung, zog sich die Jacke und ihre Schuhe mit den dicksten Sohlen an, um wenigstens etwas größer zu wirken, steckte den Hausschlüssel und das Hrakan ein und lief zurück zu Hralfor in die Garage.
»Also, ich schleiche dann mal zuerst raus und du wartest so lange, bis du glaubst, dass es sicher ist. Ich gehe in die Richtung des näher gelegenen Waldstücks, das ist glaubwürdiger. Du musst dann eben den längeren Weg in Kauf nehmen. Erinnerst du dich noch an die Karte?« Sie sah ihn besorgt an. Es beunruhigte sie, dass er seine Pläne so kurzfristig ändern musste, weil sie die dumme Idee mit der Infrarotkamera gehabt hatte. Höchstwahrscheinlich half es sowieso nichts, weil Jacob über ganz andere Technologien verfügte.
Zärtlich schob Hralfor ihr die Haarsträhne unter die Kapuze – und da erkannte sie ihn wieder, ihren liebsten Freund. »Du weißt doch, ich habe ein Gedächtnis wie ein Elefant … Ich werde den Wald finden.« Sein Blick wurde intensiver. Er nahm ihre Hand und legte sie an seine Brust. »Wie kann ich dir nur für alles danken?« Dann führte er ihre Handfläche an seine Lippen. Es war wie ein Hauch, den sie mit der Hand auffing. Schnell schloss er ihre Finger darum. »Ich lasse hier etwas von meinem Herzen bei dir, Hannah, es ist der beste Teil davon.«
Schnell nahm er sie noch einmal in den Arm, dann schob er sie aus der kleinen Tür ins Freie.
Wie in Trance glitt Hannah in den Garten. Es fiel ihr nicht schwer, wie ein Geist zwischen den Sträuchern zu verschwinden, denn genauso kam sie sich vor. Ein Geist, aus dem jeder Funken Leben gewichen war und der nichts als eisige Kälte in sich spürte.
Sie wusste nicht, wie lange sie zwischen Hecken und Büschen herumschlich. Irgendwann schlug sie einen weiten Bogen und kehrte genauso heimlich in das Haus zurück, wie sie es auch verlassen hatte. Sie streifte den Umhang ab und ließ ihn achtlos zu Boden fallen, während sie eilig durch das verlassene und dunkle Haus rannte, um auf den obersten Balkon zu gelangen. Von hier aus hatte man einen guten Blick in die Richtung, in der das von Hralfor angestrebte Waldstück lag.
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