Da hatte der Pfarrer, nach ratlosem Schweigen, endlich zu reden begonnen, berichtete Georg später, als er, schon längst erwachsen, nach vielen Jahrzehnten eines Abends an jenen Mann dachte. Der habe ihm eine Geschichte erzählt und noch eine andere, die er sich hätte merken sollen. Trotzdem habe er, Georg, die Sache mit diesem Brot nicht ganz verstanden. Am Ende habe der freundliche Mann ihn auf später vertröstet. Die Zeit sei zu kurz, das Fest bereits für den nächsten Tag angesagt. Georg müsse sich noch ein wenig gedulden, vielleicht später wiederkommen. Ich werde warten, hatte Georg erwidert.
Und jetzt? Im letzten Winkel des Gartens zwischen Geräteschuppen und Mauer dachte Georg über gar manches nach. Beschützt von Brennnesselstauden und dichtem Gestrüpp, war er von allen Seiten her gut verdeckt. Hier konnte er alles was ihm ein Rätsel und ein Geheimnis war noch einmal bedenken. Auch jene seltsame Rede des alten Herrn, der einmal beinah sein Großvater geworden wäre. Von einem ganz anderen Brot hatte dieser Mann nämlich gesprochen. Und nicht das Brot der Frau B. hatte er damit gemeint, auch nicht das der alten Frau und nicht das jenes Pfarrers. Georg war da ganz sicher. Aber wie konnten denn Bücher besser als Brot sein? Bücher kann man nicht essen, hatte der alte Herr gesagt. Damals hätte Georg gleich fragen sollen, sich aber doch nicht getraut.
Er lag, den Arm seitlich aufgestützt, bequem auf der Decke. Auf dem Brettersofa machte Georg es sich bequem, streckte sich rücklings aus und sah in der Enge seines Verstecks, zwischen Schuppen und Mauer, den vorüber ziehenden Wolken nach. Sie verschwanden jenseits der Ziegelwand und andere kamen nach. Große Wolken und kleine, an den Rändern zart und ausgefranst, manche so durchsichtig wie ein Schleier. Er hätte sie gerne festgehalten. Sie kamen und zogen gleich wieder weg. Viel zu schnell, dachte Georg. Viel zu schnell.
Das war ein guter Platz, sicher einer der schönsten und das beste Sofa, das einer sich wünschen konnte. Als sich Hunger zu melden begann, lief er nicht gleich ins Haus sondern wartete noch eine Weile bis der Gedanke an Brot sich zu steigern begann. In seinem Hosensack hatte er seit Mittag ein kleines Stück Brotrinde; nicht gleich verspeist, so wie er es sonst tat, sondern vorausschauend aufgespart. Das zog er nun genüsslich heraus. Hinter der Schuppentür, wohl verwahrt unter dem vielen Holz, abgedeckt von allen Seiten, so dass kein Regenwasser dazu kam, bewahrte er seinen Schatz auf, ein sorgsam gehütetes Geheimnis. Ein altes Holzkörbchen war es, nicht groß und schon halb zerbrochen, innen mit Zeitungspapier sauber ausgelegt, damit sein Schatz nicht durch alle Ritzen fiel. Hier bewahrte er seine eigenen Nüsse auf, die er – es war ja Ende September – da und dort schon gefunden hatte: am Waldrand auf Feldwegen und neben der Straße. Frau B. hatte ihm nie erlaubt, von den Vorräten der Familie zu essen, und er hielt sich daran, nachdem sie in der Vorratskammer, wo Georg schlief, ihren Nüssesack streng kontrollierte. Nur einmal war Georg mit Recht verdächtigt worden, doch würde das nicht mehr passieren. Mit eigenem Vorrat konnte er Frau B.s Nüsse gleichmütig und ohne die leisesten Nebengedanken betrachten. Jede Nacht konnte er sie riechen und dennoch widerstehen, was ihn irgendwie beinahe erwachsen machte, überlegen und glücklich.
Jetzt zählte er seine eigenen Nüsse, während er an der Brotrinde kaute. Es waren bereits vierzehn Stück und es würden noch mehr werden bis die Nusszeit vorüber war. Georg bedeckte seinen Schatz mit altem Zeitungspapier und schob das Körbchen unter die Bretter der Hütte, deren doppelter Boden und metallisch klingender Unterbau Schutz genug vor gefräßigen Nagern bot. Dann verdeckte er diesen Platz mit Gartengerät, verwischte die Spuren im Staub und verschloss den Hintereingang der Hütte bevor er zurück ins Haus ging.
So oft es ihm möglich war, suchte Georg seinen Geheimplatz auf. Von Zeit zu Zeit zählte er seine Schätze. Er tat immer etwas dazu, rechnete, sparte und wusste genau, wie viele Nüsse er wöchentlich verzehren durfte, um den Winter mit Nüssen zu überstehen. Haushalten musste er mit diesem wertvollen Gut, nur keine Verschwendung, dachte Georg. Alles muss seine Ordnung haben. Er gestattete sich keinen Heißhunger mehr, vielleicht auch deswegen nicht, weil Nüsse nur mit den eigenen kräftigen Zähnen zu knacken waren; das gelingt nicht oft hintereinander. Nüsse mit Steinen aufzuschlagen verbot sich von selber, des Lärmes wegen und der Gefahr, wegen unvermeidlicher Spuren entdeckt zu werden. Das Wichtigste an der Sache war, ein Geheimnis zu haben, von dem niemand wusste und kein Mensch auch nur ahnte auf dieser ganzen weiten Welt.
Seit Herr B. mit dem Motorrad unterwegs war schlief er selten daheim. Zwecks Erlernung eines Berufes war auch der Sohn der Frau B. aus dem Haus, deshalb beleuchtete die sparsame Frau abends nur einen der vorhandenen Räume. Georg durfte die Vorratskammer, wo für ihn das alte Eisenbett aufgestellt worden war verlassen und Frau B. richtete das Sofa gegenüber ihrer eigenen Schlafstatt für ihn her, so dass die beiden Alleingelassenen abends je eine Ecke des großen Wohnraums für sich haben konnten, einander kaum sichtbar durch den massiven Tisch in der Mitte, auf dessen Fläche sich Wäschekörbe und anderer Hausrat türmten. Das Schlafzimmer der Eheleute blieb bei Nacht und Tag unbetreten. Kalt, leer und manchmal sogar verschlossen.
Georg erinnerte sich dieser Zeit als seiner besten an jenem Ort. Frau B. widmete sich abends den Liebesromanen mit solchem Eifer, dass sie alles um sich herum vergaß, für ein Gespräch keine Zeit war, auch nicht für Unbequemes wie Rügen, Zurechtweisungen oder gar Schulgeschichten, die er ohnedies am liebsten verschwieg. Vorsorglich hatte Frau B., so wie für sich selber auch für Georg eine Lampe neben sein Bett gestellt, deren warmes Licht ein neues, angenehmes Gefühl in ihm wachrief, das er nicht zu benennen wusste. Allein mit sich selber und doch nicht einsam.
Die kühlen Wände rückten zwar näher, doch verströmten die beiden Lampen im Raum, eine neben ihm, die andere von der gegenüber liegenden Zimmerecke her ein warmes, stetiges Licht, das die umstehenden Gegenstände wie alt vertraute Freunde mit sanften Schatten umwob. Zum ersten Mal fühlte Georg deutlich die Nähe der sonst so strengen Frau. Seltsamerweise flößte sie ihm hier keine Furcht ein. Lesend und stumm schien sie mit ihm, so wie mit sich selber zufrieden und löschte jeweils zu einer vorhersehbaren Zeit leise ihr Licht. Das tat Georg ihr nach und beschäftigte sich im Übrigen gelassen mit eigenen Gedanken. Deren gab es genug.
Deutlich in Erinnerung blieben die Winter. In der Familie des Herrn B. wurde das Weihnachtsfest kaum beachtet, Weihnachtsbaum und Geschenke tat Herr B. als puren Unsinn ab, er hielt nichts vom Verwöhnen der Bankerte. Kerzen anzünden, Turmblasereien und anderes Brauchtum, das die Augen und Ohren, wohl auch die Herzen der Menschen erfreuen konnte, interessierten ihn nicht. Doch einmal, oder – gar zweimal? – hatten Bertls Bitten doch eine Ausnahme erwirkt. Weil der kleine Georg meist ohnehin beim Holzschlägern mithelfen musste, sollte er draußen die Waldarbeiter um ein Bäumchen bitten und erhielt es auch zu seiner und Bertls Freude. Das gelang ihm noch ein zweites Mal, erinnerte er sich später, doch dann konnte davon keine Rede mehr sein.
Mit vierzehn war Bertl bereits aus dem Haus. Wo, das wurde dem drei Jahre jüngeren Georg nicht mitgeteilt. Vielleicht bei seinem Lehrherrn? Bei seinem leiblichen Vater oder sonst irgendwo, das wusste Georg nicht. Er erinnerte sich aber oft an seine Erlebnisse im Wald mit den abgeschnittenen Fichten.
Ein Christbaum wäre halt schön, ließ sich Georgs Stimme von seiner Zimmerecke her vernehmen, weil es schon Abend war und Frau B. bereits mit dem Lesen eines spannenden Liebesromans beschäftigt. Georg sagte das gar nicht laut, doch hörbar genug. Es war ja auch tatsächlich Weihnachtszeit und am nächsten Tag Heiliger Abend. Frau B. fühlte sich zwar gestört, fand aber doch eine Antwort. Was denn net no alles! meinte sie unwirsch. So was macht nur a Arbeit und steht dann herum. Als Georg antworten wollte, fiel sie ihm ungeduldig ins Wort: Wennst an willst, holst dir halt an vom Wald, weil kaufen tua ma kan.
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