Jede Pflanze hat ihre individuelle Gestalt, ein sanfter Schnitt fördert ihre Schönheit. Die Kornelkirsche ist ein Großstrauch, der im Alter zu einem kleinen Baum mit kurzem Stamm und kugeliger Krone heranwächst. Im zeitigen Frühjahr erfreut sie uns und die Bienen mit ihren leuchtenden, gelben Blüten.
Kleine Streicheleinheiten für Pflanzen
Mechanische Reize können im Gartenbau als Alternative zu Stauchungsmitteln eingesetzt werden. Im Gewächshaus wie im Haus tendieren Pflanzen dazu, lange und instabile Triebe zu bilden. Sobald Zimmerpflanzen im Sommer nach draußen gestellt werden, wachsen sie schöner und kompakter und leiden auch weniger an Schädlingen. Neben dem erhöhten Lichtangebot sorgen offensichtlich auch die mechanischen Reize durch Wind und Wetter dafür, dass das Längenwachstum der Zellen gebremst wird, dass dickere, stabilere Triebe und kräftigere Blätter gebildet werden.
Inzwischen wird dieser Effekt auch von einigen Zierpflanzengärtnereien eingesetzt, die »Streichelmaschinen« über ihre Pflanzenbestände fahren lassen und so ein kompaktes Wachstum der Pflanzen erreichen.
Erhöhte Konzentrationen von Pflanzenhormonen, die das Streckungswachstum der Zellen hemmen, konnten in den behandelten Pflanzen nachgewiesen werden.
Pflanzen von Grund auf verstehen
Die Pflanzen in unserem Garten: Sie wachsen und verändern sich im Jahreslauf, aber sie sind unbeweglich wie ein lebloses Material, auch Reaktionen auf Reize können wir an ihnen nicht wahrnehmen. Aber ist das, was wir wahrnehmen, auch die Wirklichkeit?
Bis zum achten Lebensmonat etwa existiert für kleine Menschen nur das, was sie unmittelbar sehen können. Erst danach lernen sie, dass ein Mensch, der aus der Tür gegangen ist, wiederkommen wird, dass ein Bauklotz, der unter einem Tuch liegt, trotzdem noch da ist. Im Laufe unseres Lebens lernen wir, dass das, was wir wahrnehmen, nur ein winziger Teil der Wirklichkeit ist, und dass viele Sinneseindrücke uns auch täuschen. Dennoch werden wir immer wieder von unseren Wahrnehmungen verführt, das, was wir sehen, für die Wirklichkeit zu halten – oder zumindest für den wichtigsten Teil der Wirklichkeit.
Wenn wir Pflanzen danach beurteilen, was wir sehen, dann werden wir einigen Täuschungen aufsitzen. Viele Pflanzen in so manchem Garten haben unter diesen »Fehlwahrnehmungen« zu leiden. Drei Beispiele sollen dies erläutern:
Pflanzen wurden bei einer Versandgärtnerei bestellt. Es werden Töpfe geliefert, in denen nur Erde zu sehen ist, keine Blätter. Also wird davon ausgegangen, dass auch keine Pflanzen geliefert wurden. – Irrtum, auch Töpfe ohne Blätter und Blüten können gesunde Pflanzen enthalten. Wenn wir die Ballen aus den »leeren Töpfen« einpflanzen, erscheinen nach einiger Zeit die »bestellten« Blätter und Blüten (siehe dazu Seite 20).
Bäume auf einer Baustelle sollen geschützt werden. Also wird der Stamm mit einer Manschette versehen und einzelne Äste, die über die Baustraße hängen, werden hochgebunden. Da alle sichtbaren Teile des Baumes geschützt wurden, wird davon ausgegangen, dass der Baum nun sicher ist. – Irrtum, ein so geschützter Baum wird auf einer größeren Baustelle wahrscheinlich schwer geschädigt. Viele nur oberirisch geschützte Bäume beginnen nach den Bauarbeiten »rückwärts zu wachsen«, verlieren immer mehr Äste, werden krank und gehen schließlich ein (siehe dazu Seite 22).
Ein Baum wird stark zurückgeschnitten, auch Äste mit einem Durchmesser von mehr als 5 oder gar 10 Zentimeter werden entfernt. Er treibt daraufhin stark aus und bildet besonders große Blätter. Es sieht so aus, als hätten wir den Baum zu besonders gesundem Wachstum angeregt. – Irrtum, hier versucht ein Lebewesen in einer Notreaktion sein Leben zu retten. An den Schnittstellen bilden sich große Faulstellen, die mächtigen Austriebe brechen nach einigen Jahren herunter, der Baum wird krank und auch er fängt an, »rückwärts zu wachsen«(siehe dazu Seite 85).
Um Pflanzen achtsam pflegen zu können, ist es notwendig, mehr von den Pflanzen zu kennen und zu wissen, als das, was wir sehen.
Schauen Sie einmal, wie sich die Gestalten der verschiedenen Pflanzenarten unterscheiden. Selbst im Winter, wenn die Blätter fehlen, die ja die Bestimmung einer Pflanzenart schnell möglich machen, können wir Gehölzarten oft an ihrer Gestalt erkennen. Da sind die weit ausladenden, breitovalen Kronen der Apfelbäume, die hochovalen, aufstrebenden Kronen der Birnbäume, die lichten Birken, deren dünne Äste sich auch ohne Blätter leicht im Wind bewegen, und die in sich ruhenden, starken und knorrigen Kronen der Eichen.
Aber auch die verschiedenen Arten der Sträucher können im Winter an ihrer Gestalt erkannt werden. Wildrosen wachsen beispielsweise zumeist wie ein Springbrunnen: Junge Zweige wachsen straff aufrecht. Wenn die Zweige älter werden, biegen sie sich an ihren Spitzen immer mehr nach außen und nach unten. Bei anderen Sträuchern bleiben die einzelnen Triebe aufrecht und verzweigen sich nur wenig, wie bei der Hasel oder dem Faulbaum. Dann gibt es auch Sträucher, die eher wie kleine Bäume wachsen, sie bilden kurze Stämme und mehr oder weniger kugelige Kronen. Dazu gehören zum Beispiel die Kornelkirsche oder der Kreuzdorn.
Jede Pflanze hat aber nicht nur eine arttypische, genetisch bedingte Gestalt, sie ist auch ein unverwechselbares Individuum. Ihre Gestalt resultiert aus den Bedingungen, unter denen die Pflanze bis jetzt gewachsen ist, sie erzählt ihre Geschichte. Dazu gehören auch Unfälle wie Rindenverletzungen durch Schubkarren oder Autos und natürlich die Pflegemaßnahmen des Gärtners.

Pflanzen können auch an ihrer arteigenen Gestalt erkannt werden, bei Gehölzen ist das im Winter anhand der Kronenarchitektur besonders gut möglich. Der Apfelbaum (oben) lässt sich mit seiner weit ausladenden, breitovalen Krone deutlich vom Birnbaum (unten), der eine aufstrebende, hochovale Krone ausbildet, unterscheiden.
Wurzeln – oft übersehen und doch so wichtig
Vor allem bei Stauden können wir eine wichtige und oft übersehene Eigenschaft der Pflanzen erkennen: Die Wurzeln sind für das Überleben der meisten Pflanzen wichtiger als die oberirdischen Teile. Wenn wir an die Stauden denken, die im Winter unter der Erde ruhen, sehen wir: Sie kommen ganz gut für einige Zeit ohne Blätter aus. Sehr viele Pflanzen können nach dem vollständigen Verlust der oberirdischen Teile wieder austreiben, abgeschnittene Triebe vertrocknen in der Regel. (Dass sich abgetrennte oberirdische Teile von Pflanzen bewurzeln, kommt – ohne Hilfe des Gärtners, der Stecklinge pflegt oder ein Edelreis auf eine Unterlage pfropft – in der Natur nur selten vor.)
Unglücklicherweise sehen wir aber die Wurzeln nicht. Deshalb sind wir uns nicht darüber im Klaren, wie groß und wichtig die Wurzeln unter der Erdoberfläche für die Integrität des Lebewesens »Pflanze« sind. Einige Forscherinnen und Forscher haben sich die Mühe gemacht, die Wurzelsysteme einzelner Pflanzen freizulegen und sie zu vermessen: Eine einzige Roggenpflanze hat demnach rund 14 Millionen Wurzeln, die zusammen 622 Kilometer lang sind und deren Gewebeoberfläche 237 Quadratmeter beträgt!
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