„Das Strenge mit dem Zarten, Dass Hartes sich und Mildes paarten.“
Freilich trägt der „grobe“ Wälder auch sein gut Teil bei zur Verfeinerung seines Strohs, so dass seine Geflechte nur von den feinsten Florentinerarbeiten übertroffen werden.
Toni war nun allerdings selbst kein Strohflechter; was er auf dem Rücken bei sich trug, war die Arbeit der feineren Finger seiner Schwester, denen er als dienstfertiger Bruder die Frucht ihres winterlichen Fleißes in Geld zu verwandeln versprach. Er brauchte ja nur nach Basel herunter zu kommen, so ward er seiner hübschen Körbchen schon los; oder sollten die Basler Frauen mit ihrem bekannten Sinn für das Feine und Ausgetüftelte ihn und seine niedlichen Sächelchen von der Türe weisen?
Sein Sinn stand freilich noch weiter als nach Basel hin. Er hatte das Schuhmacherhandwerk gelernt bei einem Meister, der seine Wanderjahre in Frankreich drüben zugebracht. Dieser hatte mit seinen Erzählungen von den Wundern der französischen Städte Toni´s Wandertrieb mächtig erregt, und besonders wünschenswert ließen dem Lehrling die welschen Brocken, welche der Meister so geschickt unter das Wälderdeutsch zu mengen verstand, die Kenntnis der französischen Sprache erscheinen. Tönten doch des Meisters Flüche noch einmal so kräftig, wenn er sie mit einem französischen diable 5würzte, und je weniger Toni den Sinn dieser und ähnlicher Ausdrücke verstand, desto größere Geheimnisse ahnte er dahinter, so dass ihn nach der französischen Bildung immer stärker verlangte, je näher das Ende seiner Lehrzeit kam. Galt doch auch damals noch im badischen Land französische Mode für das Schönste in der Welt, und wer der Mamsell so und so ihr Hofschuhmacher werden wollte, musste wissen, wie hoch man den französischen Dämchen die Absätze an den Stiefelchen macht.
Die beiden Jünglinge lenkten ihre Schritte von der staubigen Landstraße, wo wir sie getroffen haben, links dem Rheine zu, der dort seine smaragdgrünen Wellen in eiligem Laufe an Rheinfelden vorbei Basel zutreibt. Der wilde Geselle stürzt sich, durch sein erfrischendes Bad im Bodensee gestärkt, unterhalb Schaffhausen über hohe Felsen hinab. Dies gefällt ihm so gut, dass er auf der ganzen Strecke vom berühmten Rheinfall bis fast nach Basel hinunter den Purzelbaum zu wiederholen versucht. Bei Laufenburg gelingt das Kunststück ihm nahezu, aber wie er weiter unten bei Rheinfelden noch einmal einen Anlauf dazu nimmt, schlägt er sich den mutwilligen Kopf an dem „Stein“, der dort aus seinen Fluten hervorragt, so empfindlich auf, dass ihm die Luft für weitere Seiltänzerkünste vergeht, und bei seiner Ankunft in der „frommen Stadt“ macht er eine so entschiedene Wendung, dass von da an alle Tücke seines Herzens verschwunden ist und er wie ein ehrbarer Basler fortan gemessenen Schrittes seiner Wege geht.
Schwerbeladene Handwerksburschen laufen aber nicht so schnell wie der Rhein, und unsere beiden Kameraden waren nach zwölfstündigem Marsch müde genug, sich an den Ufern des schönen Stromes nach einem Nachtquartier umzusehen, um so mehr, als es eben sieben Uhr schlug, nicht auf Sepplis Wälderuhr, die ja auf ihres Meisters Rücken nicht gehen konnte, wohl aber an der alten Turmuhr des Schlosses, auf welches die beiden müden Wanderer ihre Schritte lenkten.
Auf dem rechtsseitigen Rheinufer – nur ein halbes Stündchen oberhalb Rheinfelden, der aargauischen Stadt, aber auf der andern, der badischen Seite des Flusses – erhebt sich, dicht an dem Strom, ein großes Schloss, das mit seinen Umfassungsmauern, Gräben und Tortürmen den Eindruck einer kleinen Festung macht. Sein ältester Teil, eine Burg, die ihr ergrautes Gestein in den Wellen des Rheines spiegelt, datiert aus mittelalterlicher Zeit. Neben dieselbe wurde um die Mitte des vorigen Jahrhunderts von den damaligen Besitzern der Burg, den Rittern des deutschen Ordens, ein geräumiges, vierstöckiges Haus gestellt, an das eine schöne Schlosskirche stößt. Ein ausgedehnter Park mit schattigen Lindenalleen zieht sich hinter dem Schloss den Rhein hinauf. Einst hatte in diesen Räumen ein üppiges Treiben geherrscht. Einer der Comthurn 6des deutschen Ritterordens, der in der Umgebung große Ländereien besaß, residierte hier. Ehemals ernsten und heiligen Zwecken geweiht, geriet dieser ritterliche Bund, als er reich und mächtig geworden war, in bedenklichen Verfall. Auch die letzten Comthurn von Bukein oder Beuggen, wie das Schloss, von dem wir reden, hieß, versanken in die wüsteste Schwelgerei. Bälle und Schmausereien, die in wahre Orgien ausarteten, entweihten das ehrwürdige Schloss. Man verprasste die Abgaben, welche die Bauern von ihrem mühsam erworbenen Gut aus Tenne und Keller zu liefern hatten. Drehte sich der Braten am Spieß und wollte das Feuer darunter nicht helle brennen, so warf der Koch einen Butterweck 7in die Flamme und schürte damit.
Freilich zu der Zeit, von welcher wir reden, war solche Üppigkeit aus den Mauern des Schlosses längst verbannt. Der deutsche Ritterorden war schon unter Napoleons Herrschaft aufgehoben worden und die Staaten zogen seine Güter ein. Das Schloss am Rhein war in der Folgezeit lange dagestanden wie ein ausgeraubtes Nest, die kurze Zeit, bevor unsere beiden Handwerksburschen demselben ihren Besuch abstatteten, eine Armen–Erziehungsanstalt darin untergebracht worden war. Da wurden denn keine Butterwecken mehr ins Feuer geworfen; es hat sich kaum hie und da einer in die Kaffeetassen verirrt, wenn auch keineswegs Meister Schmalhans, sondern christliche Nächstenliebe der Anstalt den Speisezettel schrieb.
Das Vesperglöcklein 8auf der alten Schlosskirche kündigte eben mit heller Zunge Betzeit an, als unser Wälderpaar durch den Torweg schritt. Die Kirche war nämlich, trotzdem die Anstalt unter protestantischer Leitung stand, dem alten Glauben treu geblieben, denn in ihr waren und sind bis auf den heutigen Tag die beiden benachbarten katholischen Dörfer eingepfarrt. Seppli erinnerte sich beim Ton der Betglocke an die Ermahnung, welche ihm seine Mutter gegeben, als er den Wanderstab ergriff. „Geh´ an keiner Kirche vorbei“, hatte sie ihm gesagt, „ohne dass du ein Vaterunser betest, und an keinem Kreuze vorüber, ohne dass du den Hut abnimmst und ein Ave-Maria sprichst.“
Diesen mütterlichen Rat hatten die beiden Wanderer bis jetzt treulich befolgt und es war ihnen eigentümlich, was für ein heimatliches Gefühl sie bei jedem Kirchlein und Kapellchen, dessen sie auf ihrem Wege ansichtig wurden, beschlich. Bleibt doch auch der wanderlustige Bursche, der pfeifend und singend seine Straße zieht, von dem sonderbaren Gefühl, das man Heimweh nennt, nicht verschont, und mancher wäre schon gerne, wie der Peter in der Fremde, gleich am ersten Abend wieder zum mütterlichen Herd zurückgekehrt. Da ist es denn gut, wenn ein Mensch eine Heimat kennt, die er überall wieder finden kann. Und zu solcher Heimat hat uns der liebe Gott auf Erden die Kirche gemacht, und damit wir überall eine Heimat finden können, die Kirchen und Kapellen in der ganzen Welt zerstreut. Glücklich der Mensch, heiße er nun Katholik oder Protestant, der im Hause Gottes seine Heimat gefunden hat! Ihn decket der Herr in Seiner Hütte zur bösen Zeit, Er verbirgt ihn heimlich in Seinem Gezelt.
Allerdings gilt den meisten Handwerksburschen von heutzutage nicht die Kirche, sondern das Wirtshaus und die Kneipe als ihr Heimatort, aber so war es bei Seppli und Toni nicht. Ehe sie sich nach dem Wirtshaus umsahen, betraten sie die Schlosskirche, tauchten ihren Finger ins Weihwasser, bekreuzigten sich ehrfurchtsvoll und knieten andächtig nieder, während der Priester am Altar das Tedeum 9sang, und Seppli wischte sich verstohlenerweise eine Träne ab, denn er dachte an die Mutter, neben welcher er so oft des Abends knieend in der Dorfkirche der Heimat seine Abendandacht verrichtet hatte. Toni konnte sich freilich an das nicht mehr erinnern, denn er hatte sein Mütterlein kaum gekannt, und auch als der Vater von seinen dreizehn Kindern hinwegstarb, war er erst ein kleines Büblein gewesen. Aber als ein guter Katholik schickte er in der stillen Abendstunde einen Seufzer für die Seelen seiner frühverstorbenen Eltern zum Himmel empor, und war es ihm nicht, als winke jener Engel hoch oben an der Kirchendecke ihm freundlich zu: „Deine Mutter denkt in dieser Stunde an dich vor Gottes Thron!“
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