Ein Gespräch, wie sie schon etliche geführt hatte. Henrike kam es jedes Mal vor, als sei die Mutter so sehr in ihre eigenen Schwierigkeiten verstrickt, dass sie für die Probleme ihres Sohnes kein Gespür mehr hatte. Von ihr als Lehrerin wurde – wie so oft – erwartet, dass sie die Erziehungsdefizite ausgleichen und den Nachwuchs in die richtigen Bahnen lenken sollte. Eines dieser Defizite war unzweifelhaft mangelnder Respekt, doch wenn man solches diesen Kindern nicht unmissverständlich von klein auf beibrachte, hatten es die Pädagogen schwer mit ihnen.
»Ihr wollt mir doch jetzt nicht mit diesem alten Käse kommen?«, trumpfte sie auf. »Das Lied bezieht sich auf eine völlig andere Zeit und völlig andere Lehrmethoden.« Sie hörte selbst, wie lehrerhaft sie klang. So konnte man Typen wie diese beiden Störer nicht beeindrucken, das wusste sie. Zurück provozieren war das Einzige, was ihr in diesem Moment einfiel: »Ihr zieht es also vor, dumm zu sterben. Nun, das ist euer Problem, nicht meins. Also haltet jetzt einfach mal die Klappe und stört die anderen nicht.«
Die beiden verzogen die Mundwinkel und rollten genervt mit den Augen. Immerhin blieben sie still.
Sie hatte sich schon manches Mal gefragt, was aus Schülern wie diesen beiden Sitzenbleibern später mal werden würde. Und was sie dagegen tun könnte, damit sie selbst erkannten, wie sehr sie sich mit ihrem Gehabe schadeten. Ihren Einfluss schätzte sie jedoch denkbar gering ein. Learning by doing , diese Methode war noch immer erfolgversprechender als Vorhaltungen zu machen. Ob sie einfach ihre Erfahrungen machen mussten und sehen, wo sie blieben? Erfahrungen kann einem niemand anders abnehmen, klar. Aber man brauchte Menschen, Verbündete, die man respektierte und die einem die richtige Richtung aufzeigten. Lehrer konnten durchaus solche Verbündete sein. Wenn man es denn zuließ. Sie hatte jedoch viel damit zu tun, diese Dinge immer wieder abzufedern.
»Büchner, der sehr jung starb, hätte dieses Stück wahrscheinlich nicht ohne fundiertes Medizinstudium schreiben können. Es geht darin auch um die Frage der Zurechnungsfähigkeit. Der wahre Woyzeck ist aufgrund medizinischer Gutachten für zurechnungsfähig erklärt worden. In seinem Stück jedoch lässt Büchner diese Frage offen«, fuhr sie mit dem Unterrichtsstoff fort.
Äußerlich mimte sie weiterhin die überlegene Lehrerin, innerlich seufzte Henrike. Sie gestand sich – wieder einmal – ein, dass sie sich Deutschunterricht so nicht vorgestellt hatte. So vieles scheiterte an der Interesselosigkeit ihrer Schüler. Gut, sie waren alle mitten in der Pubertät. Und in dieser Phase der heftigen Hormonschübe und der allgemeinen Verunsicherung musste man sich irgendwie auflehnen, auch ihre eigene Pubertät war ihr noch recht lebendig vor Augen. Aber mein Gott, musste das alles so anstrengend sein? Und musste sich das immer wiederholen?
Mit Denise und Sebastian machte der Unterricht Spaß, aber für ihre konstruktiven Bemerkungen wurden sie von vielen anderen als Streber abgeurteilt. Über Nayla wunderte sie sich oft. Ausgesprochen klugen Beiträgen ihrerseits konnten manchmal höchst dümmliche Aussagen folgen, die verdeutlichten, dass sie irgendetwas Provokantes nachplapperte, das sie irgendwo gelesen hatte. Zu Woyzeck hatte sie bis jetzt noch nichts Differenziertes beitragen können.
Henrike war sich sicher, dass die meisten ihrer Schüler noch nicht einmal das Stück gelesen hatten. Obwohl das ihre Hausaufgabe gewesen war. Und obwohl es ziemlich kurz war.
Gut, Büchners Drama war 180 Jahre alt. Aber gleichzeitig hochmodern, weil es so viel über soziale Konstellationen und zwischenmenschliche Kommunikation aussagte. Und über das Wesen des Menschen. Büchner, der wie viele gute Schriftsteller, seiner Zeit voraus gewesen war, hat den Finger in offene Wunden gelegt. Natürlich ist die Sprache altbacken und gewöhnungsbedürftig. Aber es ist ein Stück Literaturwissenschaft. Ein wichtiges Stück Literaturwissenschaft. Und das Fragmentarische setzt viel Phantasie frei. Darauf hatte sie eigentlich gesetzt.
»Wer kann was über den Inhalt wiedergeben?«, forschte sie weiter.
Stille. Nur ihre beiden Lieblingsschüler hoben wieder die Hände.
»Ich bin sicher, Denise und Sebastian können das. Was ist mit euch anderen?«
Wie sie da saßen. Coolness vortäuschend. Sich vor lauter demonstrierter Lässigkeit auf ihren Stühlen fläzten, das Gesicht in die Hände gestützt. Dabei blasiert in die Gegend schauen. Langeweile aussendend. Für einen kurzen Moment wünschte sie sich die Pädagogik früherer Jahre zurück. Als man einfach nach einem Stock griff und sich dadurch Respekt verschaffte. Wer nicht hören will, muss fühlen. Damals hatte man gehört!
Was denk ich bloß für einen Blödsinn, ging es ihr durch den Kopf. Als ob man die Zeit zurückdrehen könnte.
»Gut, dann lesen wir jetzt einige Dialoge. Vielleicht wird euch da manches klarer. Tobias, du bist der Tambourmajor. Sven ist der Hauptmann, Nayla liest die Marie. Und du, Sebastian, bist der Woyzeck.« Sie verteilte sämtliche Rollen aus dem Stück.
Die meisten der angesprochenen Schüler murrten. Schließlich begannen sie, auf äußerst gelangweilte Weise ihren jeweiligen Text herunterzuleiern.
Henrike hörte der Litanei eine Weile zu. Als Sven den Satz des Hauptmanns stotterte: »Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die Ewigkeit denke«, reichte es ihr.
»Och, Leute!«, rief sie genervt aus. »Das klingt ja grauenhaft.« Sie wiederholte den Absatz in einer angemessenen Intonation. »So, und jetzt erzählt euch Denise, worum es in diesem Stück geht.«
Nachdem Denise den Inhalt strukturiert und treffend wiedergegeben hatte, entspann sich eine lebhafte Diskussion.
»Der Woyzeck ist eifersüchtig auf den Tambourmajor«, sagte jemand. »Deshalb ermordet der später die Marie.« – »Der ist doch nicht ganz klar im Kopf, das merkt man daran, dass der Stimmen hört.« – »Auf dem trampeln alle herum.« – »Was soll das eigentlich mit den Erbsen? Hab ich nicht verstanden.« – »Na, der gibt sich doch als Versuchskaninchen her. Auf so ne blöde Idee muss man erst mal kommen.« – »Vielleicht kommt man auf solche Ideen, wenn man arm ist und kein Geld hat!« – »Also ich hab immer noch nicht richtig verstanden, warum der die Marie umgebracht hat. Und nicht den Tambourmajor oder den Doktor.«
Henrike war erstaunt. Sogar Maik und Luis hatten sich an der lebhaften Diskussion beteiligt. Auch Vanessa, das Alphaweibchen mit der honigblonden Mähne und dem lässigen Outfit, die gern im Schulhof die lautstarke Anführerin herauskehrte, aber im Unterricht eher mit Schweigsamkeit glänzte, hatte einen Beitrag geleistet, der noch nicht mal so verkehrt war.
Mit einem Mal war es still. Alle Augen waren auf Henrike gerichtet.
»Sehr gut!«, nickte sie anerkennend. »Ich glaube, ihr habt verstanden, dass Woyzeck nicht einfach mal so die Marie umgebracht hat, sondern dass seiner Tat ein vielschichtiger Prozess vorausgegangen ist.«
»Sie meinen also, ein Mord sei zu entschuldigen? Weil die anderen dran schuld sind?« Nayla hatte diese Frage gestellt. So wie sie sie anschaute, war sie wirklich an ihrer Antwort interessiert.
»Das ist nicht so einfach zu beantworten. Was wir hier im Unterricht tun, ist die Tat vom Ende her beurteilen. Und das, was dazu führte, herauszuarbeiten. Und da gibt uns Büchner einiges an die Hand.«
Sie freute sich über die Lebhaftigkeit ihrer vorher so trägen Schüler.
»Das nächste Mal schauen wir uns genauer die Sache mit dem medizinischen Experiment an.« Sie klappte das gelbe Reclam-Heftchen zu. Wenn die Schüler dann genauso gut mitarbeiteten, konnte sie sich auf die nächste Stunde freuen.
Ein Gedanke kam plötzlich wie aus dem Nichts angeflogen: Sie ertappte sich dabei, dass sie sich fragte, wie sich wohl ein Leben ohne Martin anfühlte.
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