Oben zwei Bier trinkende Männer, die mich empfangen: Ruslan und Tolik, wie ich kurz darauf erfahre. »Prodajte nam vodu!« Sie wollen mir mein Wasser abkaufen – für Ruslans Tochter, die dabei ist und nichts zu trinken hat. Für sich haben sie zweieinhalb Liter Bier mitgenommen. Alisja bekommt mein Wasser. Sie wundern sich, wie ich es auf diesen Berg geschafft habe, denn die Aussichtsplattform für die Touristen sei doch dort unten. So weit unten, dass ich sie nicht einmal sehe. Das hier sei ein Platz für die Einheimischen, niemand verirre sich hierher, meint Ruslan. Nur ich offenbar. Sie erzählen begeistert vom Oktoberfest in München, wo – Ruslan weiß Bescheid – man aus riesigen Glas-Stiefeln Bier trinkt. Ich korrigiere und erkläre ihnen, dass es Maßkrüge sind. Aber Ruslan lässt sich nicht beirren, er ist sich hundertprozentig sicher, auch wenn er noch nie in München oder auch nur in Deutschland war. Trotzdem. Was kann er von mir erwarten, von einer Frau? Dazu von einer, die sein Bier abgelehnt hat, von einer, die in diesen Dingen ohnehin nicht mitreden kann, weil sie sich als Weintrinkerin geoutet hat. Sie schwärmen weiter: Und die Würste erst … Die machen die Bierbrauer selbst, einfach große Klasse. Ich sage nichts mehr. Sie wollen meinen Facebook-Kontakt haben und sind untröstlich, dass ich dort keinen Account habe. Das habe doch jeder … Ruslan gibt mir seine E-Mail-Adresse, eine Ziffernfolge, die gleichzeitig seine Telefonnummer ist. Sie fragen nach meinen Plänen, empfehlen mir, die neue Universität anzuschauen. Aber dafür brauche man einen Passierschein, einen Propusk. Als ich erzähle, dass ich eine Wanderung auf einer der Inseln machen will, warnt mich Ruslan vor den vielen giftigen Schlangen.

Blick auf das Goldene Horn und die zwei neu gebauten Brücken
Ruslan, Tolik und Alisja: Von ihnen habe ich einiges über deutsches Brauchtum gelernt
Dann gehe ich wieder zurück ins Kino, meine Premiere mit dem Regisseur. Die Russen sind begeisterte Kinogänger, sie feiern ihre Helden und auch hier gibt es Rosenbukets, die einiges gekostet haben müssen. Autogramme, Fotos – eine kitschigsentimentale Kinowelt, die es bei uns gar nicht mehr gibt. Danach muss ich schon fast zum Sibirienfilm hetzen, er läuft nicht auf der Freilichtbühne, sondern im Pavillon, direkt am Meer. Es sind gar nicht so wenige Besucher da, immerhin läuft der Film auf Deutsch. Nach dem Film gehe ich zu Manfred Brockmann, der sichtlich erstaunt ist, mich zu sehen. Meine Mails hat er nicht gelesen … Er schlägt vor, dass wir zusammen etwas essen gehen. Er ist ein etwas älterer Herr, der laut denkt, vor sich hinmurmelt und der es nicht bemerkt, wenn ihm gelegentlich Darmwinde entweichen. Ich tue so, als ob ich nichts bemerken würde. An seinem Hals baumelt ein Lederband mit einem riesigen goldenen Taizé-Kreuz. Brockmann nimmt kein Blatt vor den Mund. Schon nach wenigen Schritten bleibt er plötzlich stehen und fragt mich, ob ich gestern auch das pompöse Feuerwerk gesehen hätte? Ich nicke. »Nichts als Schein, ein Trugbild, denn in Wirklichkeit leben sie alle über ihre Verhältnisse – der Staat, die Stadt, die Menschen.« So viele seien verschuldet, aber es scheint niemanden zu interessieren. Sie machen einfach weiter wie gehabt.
Wir spazieren ein wenig durch die Stadt, über den Fokin-Boulevard, den hier alle Arbat nennen. Eine entspannte Wochenendstimmung liegt in der Luft. Alle schlendern gemütlich in der Abendsonne.
Brockmann will zu einem Chinesen. Mir ist egal, wo wir hingehen. Das Essen schmeckt nicht wirklich chinesisch. Alles ist süß, das Fleisch klebt in einer schleimigen Soße, dabei hatte ich extra nichts Süß-Saures bestellt. Dazwischen gekochte Gurken. Reis gibt es nicht dazu. Den hätte man offenbar extra bestellen müssen. Ich schaue in die Karte und tatsächlich, Reis ist in der Rubrik »Salate« aufgelistet. Wir erzählen lange und Manfred Brockmann ist begeistert, dass er endlich mal eine Gesprächspartnerin vor sich hat, die ihn versteht, die auch so manche Probleme mit den Russen hat.
Bummeln in der Abendsonne auf dem Arbat, der direkt auf die Strandprommenade führt
Dann sagt er unvermittelt, dass er von vielem enttäuscht sei. Er war mit so großem Enthusiasmus hierhergekommen. Wenn er daran nur denkt, die Euphorie der Anfangszeit. Aber mit den Jahren … Auch die Russen sieht er, je länger er hier lebt, immer kritischer. Das Emotionale, das ihn früher so begeistert habe, stört ihn mehr und mehr. Aber auch generell zieht er eine ernüchternde Bilanz: Die Männer – immer nur Krieg und Weiber im Kopf und in der ewigen Pubertät stecken geblieben. Die Frauen – leider oft so herrschsüchtig. Alles wollen sie an sich reißen. Und dann verhätscheln sie auch noch ihre Söhne und machen damit alles noch schlimmer. Und die jungen Frauen erst … Würden sie so rumlaufen, wenn sie etwas im Kopf hätten? Brockmann schüttelt den Kopf. Wer habe ihn nicht alles enttäuscht … Geschichten könnte er erzählen … Zum Glück habe er immer auch umwerfende Mitmenschlichkeit erlebt. Szenen und Gesten, die in Deutschland undenkbar wären. Das gebe ihm immer wieder Hoffnung und die nötige Kraft. Vor allem, weil es die Menschen so verdammt schwer hier haben. Ja, dieses Nebeneinander ist wohl das Besondere hier …
Wir erzählen angeregt und verstehen uns auf Anhieb. Deshalb gehen wir nach dem Chinesen noch woanders hin, ans Meer. Es ist fast romantisch. Wir sitzen auf einer Terrasse eines Cafés an der Promenade vor der untergehenden Abendsonne, ich trinke Cappuccino und er raucht Zigarre und isst nebenher ein Eis.
Zwischendurch ruft Brockmann bei seiner Frau an. Ja, die Russen seien oft so schwermütig, da muss man zwischendurch mal aufheitern. Er erzählt vom Leben in der Stadt und seinen Touren aufs Land. Brockmann wandert gern. Erst gestern ist er von einer vorgelagerten Halbinsel vom Zelten zurückgekommen. Er erzählt mir, dass am Morgen eine Frau barfuß und um Hilfe schreiend auf ihn zugerannt kam und sich ängstlich an ihn klammerte. Sie war in der Nacht zuvor mit einer Yacht aufs Meer hinausgefahren, mit zwei Männern. Als sie bemerkte, was die beiden mit ihr vorhatten, sei sie über Bord gesprungen, an Land geschwommen und durch den Wald gerannt, die ganze Nacht, bis sie früh den Rauch seines Feuers entdeckt habe. Brockmann hat sie beruhigt und mitgenommen, zurück zur Fähre. Als sie wieder in der Zivilisation am Bootsanleger waren, schien die Barfüßige wie ausgewechselt. Da sie ohne Schuhe nicht schnell gehen konnte, hatten sie die Fähre verpasst. Aber was hat sie gemacht? Habe ihn stehen lassen und sich mit dem Taxi nach Hause fahren lassen – ein mehrstündiger Weg, einige Tausend Rubel. Er habe dann den ganzen Tag auf die Abendfähre gewartet. Brockmann schaut mich fragend an. »Wissen Sie, ich weiß hier nie, was ich glauben soll. Was ich nicht alles erlebt habe … «
Heute nun beziehe ich meine Wohnung. Auf dem Weg dorthin komme ich an drei Gullys ohne Deckel vorbei. Die Gullys hier sind deutlich größer als bei uns und mitten auf dem Gehweg. In zwei Löchern steckt ein Ast als Warnung. Da hatte ich vorgestern Abend also Glück. Wladimir wartet mit einem Namensschild vor dem Lebensmittelgeschäft hinter dem Wohnblock. Wir hatten vorher gemailt und den Treffpunkt ausgemacht, weil ich kein Telefon habe. Er wirkte deshalb fast ein bisschen genervt. Die Wohnung habe ich übers Internet gebucht. Es gibt eine Plattform für ganz Russland, wo man Zimmer und Wohnungen für Kurzaufenthalte und sogar stundenweise anmieten kann: www.sutochno.ru. Es ist eine private Wohnungsbörse. Dennoch sind die Preise für das, was angeboten wird, relativ hoch. Russland ist eben kein Schnäppchenparadies, schon seit Jahren nicht mehr. Die Handvoll Anbieter mit halbwegs moderaten Preisen hatte ich alle angeschrieben. Aber entweder blieben die Antworten ganz aus oder waren mehr als knapp. Zwischendurch hatte ich sogar den Eindruck, dass es gar nicht darum ging, etwas zu vermieten. Einmal hatte ich den Hinweis entdeckt: »Wir stellen Mietquittungen aus, auch ohne Übernachtung. Preis: 10 Prozent der Miethöhe.«
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